Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sturmkönige 01 - Dschinnland

Sturmkönige 01 - Dschinnland

Titel: Sturmkönige 01 - Dschinnland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
hinabgesickert war. Blutkrusten, die seine Lider verklebten, hätten ihn blind gemacht. Blind für die entsetzliche Leere um ihn herum. Leere, die ihn mürbe machen sollte. Die Schmerzen hatten ihn nicht dazu bewegen können, über Maryam zu sprechen. Nun sollte ihn der Abgrund überzeugen.
    Dabei hatte er selbst viel mehr Fragen als Antworten. Warum interessierte sich der Narbennarr derart für Maryam? Damals in der Wüste hatte er etwas in ihr entdeckt, das ihn dazu bewegt hatte, sie mit sich zu nehmen. Du siehst es auch. All die Jahre lang war Tarik überzeugt gewesen, dass Amaryllis sie getötet hatte. Und heute? Er wusste es nicht mehr, wusste gar nichts mehr. Das Schweigen seiner Peiniger war die Antwort auf sein eigenes.
    Hatte er Maryam damals wirklich im Stich gelassen?
    Halb verdurstet hatte er die Wüste rund um die Oase und darüber hinaus nach ihr abgesucht. Nirgends eine Spur. Nicht von ihr und nicht vom Narbennarren. Keine Fußstapfen im Sand, kein Leichnam. Und dennoch hatte er niemals bezweifelt, dass sie tot war. Eine Mutter, deren Kind von einem hungrigen Tiger in den Dschungel verschleppt wird, rechnet nicht damit, es lebend wiederzusehen. Und Dschinne töteten ihre Opfer, das hatten sie immer getan.
    Bis heute. Das Gerede des Narbennarren hatte in seinen Ohren hohl und selbstgerecht geklungen, doch waren da auch Dinge gewesen, die Tarik keine Ruhe ließen, weit unter der Oberfläche aus hämmerndem Schmerz und Schwindel.
    Er hatte während der vergangenen Tage nicht viel gegessen, und doch drohte er immer wieder am eigenen Erbrochenen zu ersticken. Erst hatte er Wasser ausgespien, dann stinkende Galle, die in seine Nasenlöcher lief. Mit gefesselten Händen wäre er längst tot gewesen.
    Hatten sie dasselbe mit Maryam getan? Sie geschnitten und geschlagen und schließlich hier aufgehängt, mit dem Kopf nach unten über dem Abgrund?
    Nicht einmal ihren Namen hatte sie ihnen verraten.
    Nicht einmal den Namen.
    Er fragte sich, was als Nächstes käme. Vielleicht würden sie ihn tagelang hier hängen lassen. Wahrscheinlich würden sie ihn zwischendurch quälen, womöglich das Fleisch von seinen Knochen nagen, bis er redete.
    Aber redete worüber? Über Maryam und ihr Leben in Samarkand? Über ihre Aufsässigkeit und ihren Willen, etwas zu verändern? Darüber, wie sie eingesehen hatte, dass der Wandel nicht in ihrer Macht lag und ihr nur noch die Flucht blieb?
    Oder über ihre Alpträume von einer unerklärlichen, unbeschreiblichen Gefangenschaft, die selbst ihre rebellischen Freunde nicht teilten, geschweige denn verstehen konnten? Tarik hatte sich Mühe gegeben zu begreifen. Wieder und wieder hatte er sich die Träume beschreiben lassen, ihre entsetzlichen Ängste bei Nacht, ihre Anfälle von Eingeschlossensein und unerträglicher Enge. War es das, was der Narbennarr hören wollte?
    Du siehst es auch.
    Aber was? Bei allen Göttern, was denn nur?
    Er wollte schlafen und konnte es nicht. Wollte aufhören zu denken und kam doch nicht gegen die Macht der Ungewissheit an. Wollte sterben und fand doch jedes Mal zurück zu seinem alten Überlebenswillen.
    So vergingen weitere Stunden. Oder Jahre.
    Und dann kam der Narbennarr.
    »Wo ist sie?«, fragte Amaryllis, als er vor ihm aus dem Dunkel auftauchte, bis sich ihre Gesichter auf einer Höhe befanden. Im Gegensatz zu Tarik stand er nicht auf dem Kopf, sondern aufrecht in der Luft. »Wo ist sie, und was hat sie vor?«
    Der Nebel um Tariks Verstand lichtete sich nur schwerfällig. Dann traf es ihn wie ein Keulenschlag. Die Bestätigung seiner geheimen Ahnungen. Der Ansturm einer Hoffnung, die womöglich nur ein weiterer Teil der Tortur war. Der älteste, perfideste Trick jedes Folterers.
    »Du meinst«, brachte er krächzend hervor, »du weißt es nicht?«
    »Sag mir, wo sie ist«, wiederholte Amaryllis ruhig.
    Tarik stieß ein hysterisches Lachen aus, so humorlos wie der Schrei eines Sterbenden. »Du hast sie mitgenommen! Du hast sie mir weggenommen!«
    Der Dschinnfürst schwebte in der Leere. Ihre Gesichter waren keine Handbreit voneinander entfernt, Tariks auf den Kopf gedreht, blutunterlaufen und verzerrt; das des Narbennarren reglos, als seien die Puzzleteile seiner Mimik abgestorben.
    »Hast du lange nach ihr gesucht?«, fragte Amaryllis. »Oder hat sie dich gefunden?«
    Tariks Kehle fühlte sich an, als hätte er Sand geschluckt. Seine Gedanken – die wenigen, die er wie im Vorbeiflug erfassen konnte – drehten sich in einem Wirbel um sich selbst.

Weitere Kostenlose Bücher