Sturmkönige 01 - Dschinnland
verschränkten Hauern wie eine Echse. Der Gestank aus dem Schlund der Kreatur raubte Tarik den Atem. Aber er bemühte sich, den Wächter nicht zu beachten.
Der Narbennarr lächelte wieder. »Sie hat mich verstanden.«
Du siehst es auch. Das hatte Amaryllis damals zu Maryam gesagt.
Alles, was Tarik wollte, war eine einzige Chance – nur den einen, ungestörten Augenblick, in dem er den Narbennarren töten würde.
»Die Welt«, sagte Amaryllis, »ist eine Liebschaft zwischen Vernunft und Unvernunft. Zwischen Magie und Gewöhnlichkeit. Warum die beiden Liebenden auseinanderreißen?« Er deutete an sich hinab, an diesem Spottbild eines Mannes. »Warum nicht versuchen, sie zu einen?«
Irrsinn, aber mit einem Unterton, der Tarik alarmierte. So, als läge eine Wahrheit darin verborgen, die sich nicht auf den ersten Blick zeigen wollte, sperrig und abgrundtief fremd.
»Deshalb tötet ihr die Menschen nicht mehr, sondern versklavt sie?« Tarik war offensichtlicher irritiert, als ihm lieb war. »Weil du erkannt hast, dass beides Teile dieser Welt sind? Ihr und… wir?«
Ein Kopfschütteln. »So schlicht. So profan«, flüsterte der Dschinnfürst voller Abscheu. »So menschlich. Sie war so viel gescheiter als du. Sie hat es verstanden. Sie hat es gespürt, so wie ich.«
Tarik verzichtete auf all die wutentbrannten Erwiderungen, die ihm auf der Zunge lagen. Sie hätten Amaryllis nur in seiner grenzenlosen Arroganz bestätigt.
»Erzähl mir von ihr«, verlangte der Narbennarr.
Tarik stieß kurz und hart die Luft aus. »Sie hat dir nicht einmal ihren Namen genannt?«
Die Ahnung eines Kopfschütteins.
»Und was lässt dich glauben, dass du von mir auch nur ein Wort mehr erfahren wirst?«
Der Narbennarr lachte. »Ihren Namen hast du mir schon verraten.« Seine ungleichen Hände bildeten vor seinem Flickengesicht ein Dreieck, über dessen Schenkel er Tarik eindringlich musterte, mit dem einen wunderschönen Auge und dem leeren anderen. »Du wirst nichts für dich behalten. Keine noch so unbedeutende Einzelheit.«
Tarik wusste, was das hieß, und er leistete einen stummen Schwur: Nicht einmal unter der Folter würde er ein weiteres Wort über Maryam verlieren. Er hatte sie einmal verraten – jedenfalls fühlte es sich so an –, und er würde es kein zweites Mal tun. Niemals wieder.
»Schmerz ist nicht alles«, sagte der Narbennarr so zärtlich, als rezitiere er ein Wiegenlied.
Eine Pause, dann: »Schmerz ist hier unten nur der Anfang. «
Über dem Nichts
Unter ihm war der Abgrund.
Tarik baumelte kopfüber an einer Kette, die sie um seine Waden geschlungen hatten. Das obere Ende war irgendwo über ihm befestigt, an einem der tiefsten Punkte der Hängenden Stadt. So schwebte das Rochnest über ihm, massig wie ein Berg, während unter ihm die Leere gähnte. Winzige Lichtpunkte dort unten, die Feuer am Boden der gigantischen Grotte; dazu die Formationen aus Fackelträgern, die auf ihren Bahnen durch die Höhle schwebten. Sonst nichts. Nur Schwärze, durch die kühle Luftzüge wehten und eine Vielzahl von Geräuschen transportierten: Dschinnstimmen, Eisenklirren und ein Klangteppich menschlicher Schreie, weit, weit unten in der Tiefe.
Er wollte die Augen geschlossen halten, aber seine Lider gehorchten ihm nicht. Immer wieder suchten sie in der Finsternis nach Halt, nach Punkten, die seinem Gleichgewichtssinn vorgaukeln mochten, Unten sei nicht Oben und umgekehrt. Dabei war das Pochen in seinem Schädel, das Hämmern in seinen Schläfen eindeutig genug. Er hing seit einer halben Ewigkeit kopfüber im Nichts, gewiss seit mehreren Stunden.
Vielleicht war draußen bereits der neue Tag angebrochen, aber nichts deutete hier unten darauf hin. Durch das Loch in der Höhlendecke, das hinauf zum Eingang führte, drang ein ewig gleicher Schimmer von Fackelschein. Kein Tageslicht. Nicht einmal ein Hauch von Sonne, falls sie bereits über den Gipfeln des Kopet-Dagh aufgegangen war.
Sie hatten seine Arme nicht gefesselt, weil sie wussten, dass er nach den Stunden, in denen sie ihm Schmerz in kleinen Dosen verabreicht hatten – Stiche, Schnitte und Schläge, die nie heftig genug waren, ihm das Bewusstsein zu rauben –, dass er nach diesen Martern nicht in der Verfassung war, sich selbst an der Kette nach oben zu ziehen. Vielmehr vermutete er, dass selbst dies ein Teil ihres perfiden Plans war: Mit den freien Händen konnte er Blut aus seinen Augen wischen, das aus den zahllosen winzigen Schnittwunden an ihm
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