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Sturmkönige 03 - Glutsand

Sturmkönige 03 - Glutsand

Titel: Sturmkönige 03 - Glutsand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Meter vor dem Turm ließ er das Knüpfwerk am Himmel stillstehen. Der Lärm des Lagers stieg zu ihm auf, hartes Stimmengewirr und das animalische Geschrei der Dienerkreaturen. Am Fuß des Turms erhob sich ein Gitterwerk aus Mauerresten, weitläufig wie ein großes Dorf – die ehemaligen Wirtschaftsgebäude der Zikkurat. Es gab keine Dächer mehr, viele Wände waren eingestürzt. Aber je näher sich die Mauern am Turm befanden, desto besser erhalten waren sie; vielleicht weil der Windschatten des Giganten sie vor den Gewalten der Sandstürme geschützt hatte. Jene, die unmittelbar ans Erdgeschoss der Zikkurat grenzten, waren gut doppelt mannshoch. Sanddünen waren von außen gegen die Lehmziegel gewandert und bildeten Schrägen. Auch im Inneren hatte sich der Wüstensand verfangen. Aus der Luft bot sich die Anlage als Irrgarten aus hellen Rechtecken dar.
    In einige Teile dieses Ruinenlabyrinths an der Westseite des Turms hatten die Dschinne zahllose Menschensklaven getrieben. Es konnten nicht alle sein, selbst wenn Tausende beim Marsch über die Zagrosberge umgekommen waren. Anderswo, vielleicht in den Ruinen weiter nördlich und südlich, musste es noch mehr dieser Gehege geben. Trotzdem schätzte Junis, dass hier am Fuß der Zikkurat wenigstens einige Tausende eingesperrt worden waren. In großen Rudeln drängten sie sich zwischen den Mauern, Pulks aus wahnsinnigen Männern und Frauen, deren Verstand in den Pferchen der Hängenden Städte durch Dschinnmagie ausgelöscht worden war. Die Krieger hatten alle Hände voll damit zu tun, die Sklaven davon abzuhalten, übereinander herzufallen. Zahllose Aufseher schwebten kreuz und quer über den Köpfen der Gefangenen und trieben sie mit Peitschen und Stöcken auseinander. Der Gewaltmarsch aus der Kavirwüste über die Berge hatte die Kräfte der Männer und Frauen beinahe aufgezehrt. Doch ihre unmenschliche Wut richtete sich noch immer gegen alles, was lebte – gegeneinander, gegen die Dschinne und bald wohl auch gegen die Bewohner Bagdads. Der Gestank, der aus dem Menschengehege aufstieg, war entsetzlich.
    Von Westen her konnte er sich dem Turm auf Bodenhöhe nicht nähern – dort hätte er die Gehege der Besessenen durchqueren müssen. Blieb einzig die Flussseite, von Osten. Dort floss der Tigris keine hundert Meter am Fuß der Zikkurat vorüber. Die Mauerreste zwischen Ufer und Turm waren alle kaum hüfthoch und als Unterbringung für die Gefangenen unbrauchbar. Viele waren nur aus der Luft als geometrische Muster im Sand zu erkennen.
    Auch auf der Ostseite gab es Dschinne, aber nicht so dicht gedrängt wie auf den Stufen der Zikkurat oder rund um die Sklavengehege im Westen. Wenn es ihm gelänge, unbemerkt nahe des Flusses zu landen, dann konnte er versuchen, sich zu Fuß bis zum Turm durchzuschlagen. Vielleicht hatte er eine Chance, wenn er niedrig am Boden blieb und auf dem Bauch durch den Sand robbte. Falls er dann noch einen Eingang fand, am besten einen Riss in den Mauern, irgendeine Öffnung, die nicht bewacht wurde… wenn also all diese unerhörten Glücksfälle zusammenkämen, dann hatte er womöglich eine Chance, ungesehen ins Innere zu gelangen. Und selbst dann wusste er noch nicht, ob Jibril wirklich in der Zikkurat oder ganz woanders festgehalten wurde. Ganz abgesehen davon, dass er keinen Schimmer hatte, wie er den Jungen aus der Gewalt der Dschinnfürsten befreien sollte.
    Voller Zweifel lenkte er den Teppich durch die dunkle Nacht zum Tigris. Maryam hätte nicht gezögert. Tarik erst recht nicht, solange etwas für ihn dabei heraussprang. Aber Junis besaß weder Maryams Idealismus noch Tariks Nase für ein gutes Geschäft. Wenn er ehrlich zu sich war, wusste er nicht, welche Vorzüge oder Talente er besaß. Er hatte nie darüber nachgedacht. Vielleicht musste er nur lange genug durchhalten. Dann würde er womöglich zum ersten Mal im Leben sich selbst verstehen.
    Der Teppich bebte leicht, als er sich dem Fluss näherte. Dem Muster missfiel die Nähe des Wassers. Es sandte kurze, rebellische Stöße durch Junis’ Finger. Er beruhigte es mit einer sanften Beschwörung. Dennoch mussten sie oberhalb des dunklen Stroms tiefer sinken. Hier gab es weniger Dschinne als an den Ufern. Das Risiko, über dem Wasser beobachtet zu werden, war viel geringer.
    Das Knüpfwerk sank widerstrebend abwärts, bis es sich keine drei Schritt mehr über der Oberfläche befand. Bei Nacht wirkten die Fluten des Tigris fast schwarz. Der Schein der Fackeln am Ufer reichte

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