Sturmkönige 03 - Glutsand
hab ihn gesehen. Alle haben ihn gesehen. Sie haben ihn den Dschinnen vorgeführt. Das ist die mächtigste Waffe des Feindes, haben sie gesagt, und jetzt ist er unser.«
»Du konntest das verstehen?«
Sie zögerte. »Sie haben es in unserer Sprache gesagt. Vielleicht, damit der Junge sie verstehen konnte. Es hat ausgesehen, als könnten sie es gar nicht erwarten, ihm weh zu tun.«
Sie mussten weiter. Er musste weiter. Aber er war jetzt vollkommen sicher, dass sie bei ihm bleiben würde, ganz gleich, wie schlecht er sie auch behandeln mochte. Wie lange konnte es dauern, bis das Verschwinden des Dschinns einem der anderen auffallen würde? Ihm blieb keine Zeit mehr, mit ihr zu streiten oder sich mit ihrem kindischen Trotz auseinanderzusetzen.
Er lief los. Sie folgte ihm ohne ein weiteres Wort, wieder so schattenhaft wie zuvor. Wenn sie eines gelernt hatte, dann war es, völlig mit der Umgebung zu verschmelzen, keinerlei Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Nur so hatte sie in den Pferchen überleben können.
Der Spiralgang mündete seitlich in eine runde Halle, in deren Mitte ein großes Feuer in einer Grube loderte. Der Raum musste eine ganze Stufe der Zikkurat ausfüllen. Auf der anderen Seite, hinter den Flammen, führte eine schmalere Rampe höher hinauf ins nächste Stockwerk. Von dort drang das Kreischen und Lachen herab. Der untere Saal aber, der sich vor Junis und dem Mädchen öffnete, war verlassen.
Über dem Feuer klaffte ein rundes Loch in der Decke. Die Luft über den Flammen flirrte vor Hitze. Verschwommen erkannte er, dass sich dort oben, ein Stockwerk höher, Gestalten bewegten. Mehrere Umrisse flimmerten im Feuerschein, bewegten sich am Rand der Öffnung umher. Harte, gutturale Silben erklangen zwischen den übrigen Lauten und dem Prasseln der Flammen. Falls das Mädchen Recht hatte und Jibril in diesen Turm gebracht worden war, dann wurde er dort oben festgehalten.
Sie standen noch auf der Rampe, auf halber Höhe des Hallenbodens, als er ihr bedeutete, hinter der Kante in Deckung zu gehen. Sie kauerte sich neben ihn. Jetzt befand sich der Boden auf ihrer Augenhöhe.
»Außer den beiden Dschinnfürsten«, flüsterte er, »wer ist noch bei ihm?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Kettenmagier?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es waren welche bei uns, als wir aufgebrochen sind, aber nach dem Angriff in den Bergen…« Schrecken zeigte sich bei der Erinnerung auf ihren Zügen, vermischt mit unterdrückter Wut. »Danach waren sie fort.«
Junis hatte mit angesehen, wie die Kettenmagier während der Schlacht ihrem eigenen Zauber zum Opfer gefallen und von den neugeborenen Kali-Assassinen fortgerissen worden waren. Es gab mit Sicherheit noch weitere Magier in den beiden Dschinnheeren aus dem Westen und Süden, aber womöglich keine mehr hier in diesem Lager.
Die Wangenmuskeln des Mädchens bebten. Er verstand ihren Zorn. Die Attacke der Sturmkönige in den Zagrosbergen musste zahllosen Sklaven das Leben gekostet haben. Wie viele von diesen Toten waren wie sie gewesen? Keine Besessenen, sondern Unschuldige, die jahrelang das Grauen der Lager erduldet hatten, nur um dann ausgerechnet jenen zum Opfer zu fallen, die eigentlich auf ihrer Seite kämpfen sollten.
Junis war gegen diesen Angriff gewesen und gegen die Kaltblütigkeit, mit der Jibril, Maryam und die anderen Sturmkönige Opfer unter den Gefangenen einkalkuliert hatten. Zuletzt aber hatte er seine Bedenken aufgegeben, berauscht von Kampflust, von der Hoffnung auf einen Sieg, der von vorneherein nichts als eine Illusion gewesen war. Jibrils Illusion. Die Sklaven seien nur eine hirnlose Masse, hatte der Junge versichert, ein endloser Strom von Kreaturen ohne Verstand. Am Ende hatte sich Junis von diesem Eindruck ebenso täuschen lassen wie die anderen. Sie seien keine Menschen mehr, hatte Jibril gesagt. Und dass es besser für sie sei, zu sterben, als in diesem Zustand weiterzuleben. Junis hatte daran nicht glauben wollen, aber dann hatte er es dennoch getan. Weil es einfacher war, als sich den moralischen Konsequenzen zu stellen. Weil es bequem gewesen war, all diese Menschen einfach aufzugeben, obgleich er es doch besser gewusst hatte.
Und jetzt kauerte eine dieser Sklavinnen neben ihm, ein Kind, das durch die Hölle gegangen war und trotz allem nicht aufgegeben hatte. Jibrils Argument, dass alle Gefangenen zu verwilderten Bestien geworden waren, war hinfällig geworden. Nur eine Fehlentscheidung mehr. Vielleicht eine Lüge, um seine Pläne
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