Sturmrappe — Der Außenseiter (German Edition)
ausdrücklich danach fragen sollte, wird Dan nicht lügen. „Man braucht nicht viel Geld zum Leben, wenn es einem nichts ausmacht, ab und zu in Armenküchen zu essen.“
Bill nickt und schiebt die nächste Seite über den Tisch. „Das hier ist eine Stellungnahme von Mr. Hugh Winters. Darin behauptet er, Sie hätten drei Monate bei ihm gelebt, von Dezember 1997 an bis Anfang März des Folgejahres. Er behauptet außerdem, Sie hätten ihn verbal und körperlich misshandelt und als Sie ihn verließen mehrere wertvolle Kunstobjekte gestohlen. Wir würden uns von Ihnen eine Stellungnahme zu diesen Anschuldigungen wünschen.“
Dan würde am liebsten verdammt deutlich Stellung nehmen, doch er zwingt sich zur Ruhe und liest das Protokoll. Als er fertig ist, sammelt er sich einen Moment lang und schaut dann auf. „Ist Ihnen das Datum aufgefallen? Er hat es zwar nicht in seiner ‚Stellungnahme‘ erwähnt, aber Sie können sich doch wohl denken, warum ein dreißigjähriger heimlich Schwuler ein siebzehnjähriges Straßenkind bei sich aufnimmt. Und das war in L.A., wo das Schutzalter bei achtzehn liegt. Wenn also jemand misshandelt wurde, dann war es ganz bestimmt nicht er. Und ich bin abgehauen, weil ich herausgefunden habe, dass er Fotos von mir gemacht hat.“ Dan möchte nicht sagen, welche Art von Fotos, und glaubt auch nicht, dass das nötig ist. „Als ich geschlafen habe, mit versteckten Kameras. Also habe ich, bevor ich gegangen bin, seine Festplatte gelöscht und die ausgedruckten Bilder mitgenommen. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.“ Dan hatte ruhig begonnen, doch er merkt selbst, dass seine Stimme gegen Ende ziemlich angespannt klingt und als er auf das Blatt in seinen Hände herunterschaut, zittert es deutlich sichtbar. Er legt es vorsichtig auf den Tisch und seine Hände in seinen Schoß, bevor er sich dazu zwingt, Bill ins Gesicht zu sehen. Bill nickt nur und wirkt vielleicht sogar ein bisschen mitleidig.
„Okay. Ähm, da ist noch eine weitere Sache, mit der wir uns beschäftigen müssen.“ Er nimmt die letzten Blätter aus der Mappe, aber reicht sie diesmal nicht Dan. „Bevor wir anfangen, möchte ich noch gern wissen … Ihr Vater, Richard Wheeler und Ihre Schwester, Krista Wheeler – wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?“
Dan versucht nicht, seine Überraschung angesichts der Frage zu verbergen. „Naja … bevor ich Texas verlassen habe. Dick ist abgehauen, als ich vierzehn war … und Krista habe ich nicht mehr gesehen, seit ich mit siebzehn gegangen bin.“
Jetzt mischt sich Neil ein: „Und seitdem gab es keinerlei Kontakt? Keine Anrufe, E-Mails, Weihnachtskarten – gar nichts?“ Er klingt skeptisch.
Dan schüttelt den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, wie ich sie finden sollte und ich wüsste auch nicht, warum ich nach ihnen suchen sollte – zumindest was Dick betrifft. Krista … ich weiß nicht, ich habe einfach nie nach ihr gesucht. Ich habe darüber nachgedacht, aber … sie war nicht gerade traurig, als ich gegangen bin. Und sie hat wohl auch nicht nach mir gesucht, mich findet man nämlich bei Google.“ Er grinst Bill ein wenig reumütig an. „Aber das wussten Sie wahrscheinlich schon.“
Bill lächelt. „Ja, da haben wir nachgeschaut. Es ist schade, dass Sie nicht bei Facebook angemeldet sind. Es hilft uns oft weiter.“
„Sie scheinen auch ohne ganz gut zurechtgekommen zu sein.“
Neil macht das Geplauder offenbar ungeduldig und er wirft Bill einen Blick zu. Bill widmet sich wieder der Mappe. „Naja, wir haben sie überprüft und … was wir gefunden haben macht uns Sorgen.“ Jetzt reicht er Dan den Bericht und er schlägt ihn auf. Beim Anblick der ersten Seite stockt ihm der Atem. Es ist eine Reihe von Polizeifotos. Das Erste zeigt seinen Vater, der älter und gefährlicher aussieht als in Dans Erinnerung. Auf dem Zweiten erkennt er mit viel Mühe seine Schwester, auch wenn ihr Name als Krista Russert vermerkt ist. Und auf dem Dritten ist ein Unbekannter abgebildet und darunter steht der Name Scott Russert. Also handelt es sich wohl um Dans Schwager.
Er schaut hoch und stellt fest, dass die Blicke der beiden Männer auf ihm ruhen, bevor er umblättert, um den Bericht zu lesen. Es ist eine ziemlich beängstigende Lektüre. Darin wird das gesamte Leben der drei zusammengefasst und dargestellt, wie sie erst allein in Schwierigkeiten geraten waren, wie Krista sich anschließend mit Scott zusammengetan hatte, und dann auf mysteriöse Weise Dans Vater aufgetaucht war.
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