Sturms Flug
fehlten.
»Jetzt stecken Sie endlich Ihre Rübe in das verdammte Ding, Sie dumme Kuh, wir sind spät dran. Es wird mir eine Freude sein, Sie zu köpfen.« Er lachte wie ein Irrer.
Plötzlich war Anne da und lachte mit. »Köpfen, köpfen!«, rief sie immer wieder, und der Mann mit den fehlenden Fingern stimmte ein. Plötzlich hatte er eine gigantische Zigarre im Mund und trug eine tarnfarbene Armeehose. Die Musik, Hardrock Marke AC/DC , dröhnte infernalisch.
Dann sauste das Fallbeil herunter.
Sie schreckte hoch.
Kalter Schweiß klebte ihr die Haare an die Stirn. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie sich befand. Die Musik spielte immer noch, allerdings in normaler Lautstärke, während das wenige Licht, das durch die Fenster fiel, kaum mehr als beklemmende Schatten erzeugte. Trotzdem erkannte sie die Umgebung als ihr Wohnzimmer.
Himmel, sie hatte geträumt. Doch Annes Stimme quäkte immer noch.
»Mara? Bist du zu Hause? Ich mache mir allmählich Sorgen, Liebes. Mara?«
Sie begriff, dass ihre Freundin soeben auf den Anrufbeantworter sprach.
»Ich habe es schon mehrmals auf deinem Handy versucht, aber da hört man nur die Ansage, dass die Nummer nicht vergeben ist oder so ähnlich. Ich verstehe das nicht …«
Schlaftrunken eilte sie zur Stereoanlage, um Angus Young den Saft abzudrehen. Dann nahm sie das Telefon aus der Ladestation. »Hallo, Anne. Ich bin hier.«
»Mara?«
»Ja, am Apparat.«
Lautes Aufatmen am anderen Ende der Leitung. Dann: »Alles klar? Ich versuche schon den ganzen Tag, dich an die Strippe zu bekommen.«
»Alles in Ordnung. Mein Handy ist übrigens nicht mehr erreichbar, weil ich es in Afrika verloren habe. Morgen werde ich mir ein neues besorgen.« Sie versuchte, ihre Benommenheit abzuschütteln. »Ich bin vorhin im Sessel eingenickt. Habe geschlafen wie im Koma.« Das stimmte, obwohl der Schlaf recht kurz gewesen war. Vorher hatte sie stundenlang wach gelegen und über alles Mögliche nachgegrübelt. Über ihren Vater, über die kleine Sonni, über Bernd, ihre Scheidung, ihren kriminellen Bruder, die Suspendierung. Über Gott und ein mögliches Leben nach dem Tod. Dabei war sie nie gläubig gewesen. Herrje, bei dem ganzen Mist, der in letzter Zeit auf sie einprasselte, grenzte es an ein Wunder, dass sie noch nicht durchgedreht war.
»Interessanter Bursche, dieser Bodo Lohmann«, stellte Anne übergangslos fest.
»Allerdings.«
»Hat er sich gut um dich gekümmert, nachdem ich gegangen bin? Wie lange ist er denn noch geblieben?«
Mara nickte versonnen. »Nun, er hat sich sehr bemüht. Und er ist noch ziemlich lang geblieben. Bis acht Uhr morgens, um genau zu sein.«
»Was?« Die Redakteurin klang entsetzt. Sie gab sich keine Mühe, ihre Bestürzung zu verbergen.
»Moment mal«, beschwichtigte Mara. »Es ist nicht so, wie sich das vielleicht anhört. Er hat auf dem Sofa geschlafen, und er ist nur deshalb über Nacht geblieben, weil wir …«
Ihr Blick streifte die provisorische Schlafstätte auf dem Sofa, die aus einer Decke bestand sowie aus zwei Laken und einem Kopfkissen ohne Bezug. Sie hätte das Zeug längst wegräumen sollen, denn es gehörte nicht ins Wohnzimmer, und außerdem war ausreichend Zeit zum Aufräumen gewesen.
»Weil ihr was?«, wollte Anne wissen.
»Weil wir mächtig einen sitzen hatten, Lohmann vermutlich mehr als ich. Er bot an, mit dem Taxi nach Hause zu fahren, doch das habe ich ihm untersagt. Zu teuer und unnötig. Außerdem war’s mir lieb, jemanden in der Nähe zu haben.« Von einer Sekunde zur anderen wurde ihr bewusst, wie sehr sie das Alleinsein mittlerweile hasste. Allerdings wäre ihr im Traum nicht eingefallen, deshalb mit Bodo Lohmann zu schlafen oder etwas anderes in dieser Richtung mit ihm anzufangen, obwohl sie ahnte, dass ihm dergleichen gefallen hätte. Am vergangenen Abend hatte es jedenfalls keine Berührungen gegeben, die intimer gewesen wären als ein Händedruck.
Anne war beruhigt und verabschiedete sich kurz darauf.
Mara stierte ins Leere.
Und nun?
Verdammte Stille. Sie öffnete die Schiebetür zur Dachterrasse und ging hinaus, obwohl sie nichts weiter anhatte als eine Jogginghose und ein T-Shirt. Die Fliesen unter ihren nackten Füßen fühlten sich eisig an, genauso wie der Wind, der ihr den Nieselregen ins Gesicht wehte. Schlotternd vor Kälte ging sie zum Geländer hinüber. Unten, rund dreißig Meter tiefer, schimmerte das schwarze Asphaltband der Straße.
Sie kletterte auf das Geländer, erst auf die untere Strebe,
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