Sturms Jagd
Fäuste wehgetan hatten. Wie am Spieß hatte sie geschrien, in der Hoffnung, jemanden auf sich aufmerksam zu machen, doch wenn ihr Geschrei tatsächlich gehört worden war, so hatte es niemanden interessiert. Das entfernte Mahlen der Knochenmühle und das Hantieren der Metzger war unbeeindruckt weitergegangen, die schwere, doppelflügelige Containertür war verschlossen geblieben. Manchmal hatte sie Motorengeräusche gehört sowie auf- und zufallende Schiebetüren, doch man hatte sie beharrlich ignoriert. Zweimal war es ganz still geworden, viele Stunden lang. Sie hatte daraus geschlossen, dass es zwischenzeitlich Nacht geworden war und die Arbeit ruhte.
Unwillkürlich begann sie, eine Melodie zu summen. Das war Monas Schlaflied.
Der leise Singsang löste einen Hustenanfall aus. Ihre Stimmbänder schienen aus Feuer zu bestehen, ihre Zunge war auf das Doppelte der normalen Größe geschwollen, der Rachen fühlte sich an wie Schmirgelpapier. Und dann diese unendliche Müdigkeit.
Das Schlafbedürfnis lag an der Dehydration, dem Flüssigkeitsverlust, der ihr allmählich die Sinne raubte. Draußen herrschten dreißig Grad, hier drinnen eine Million. Es war kaum zu ertragen. Sie versuchte, sich zu konzentrieren und auszurechnen, wie lange sie nichts mehr getrunken hatte. Wieder einmal kam sie zu keinem brauchbaren Ergebnis. Allerdings erinnerte sie sich, einmal gelesen zu haben, dass ein Mensch nach spätestens zwei Tagen ohne Flüssigkeit ohnmächtig wurde. Nach drei Tagen starb er. Deutliche Anzeichen des Austrocknens waren Müdigkeit, Verwirrtheit und Schwäche. Laura fühlte sich müde und verwirrt und schwach.
Mit schmutzigen Fingern wischte sie sich über die Stirn. Himmel, was hätte sie für ein Glas mit eiskaltem Orangensaft gegeben! Oder für eine Coke. Oder einen kühlen Rotwein. Oder einen Schluck abgestandenes Wasser aus der Blumenvase. Oder aus der Toilette. Für einen winzigen Augenblick erwog sie die Möglichkeit, ihren eigenen Urin vom Boden zu lecken. Die Vorstellung war abscheulich und rüttelte sie auf.
»Reiß dich zusammen!«, krächzte sie. »Du hast zwei Kinder, die du wiedersehen möchtest. Sie brauchen dich. Also wirst du jetzt gefälligst weitersuchen!«
Sie ohrfeigte sich, um die neuerlich anbrandende Müdigkeit loszuwerden.
Hastig tastete sie nach ihrem rechten Hosenbein, wo sich eine aufgenähte Tasche befand. Darin bewahrte sie ihre Streichhölzer auf. Obwohl sie nicht rauchte, hatte sie immer Unmengen an Streichhölzern dabei, da sie diese unter die frisch geleimten Bilderrahmen legte, die sie selbst herstellte. Fast jeder, der Rahmen zusammenleimte, tat das, denn falls man sich mit der Dosierung des Leims verschätzte und dieser überquoll, verhinderten die Hölzer das Festkleben des Rahmens an der Tischplatte.
Sie förderte eine Streichholzschachtel zutage. Es war die letzte, und sie war fast leer. Lediglich ein einziges Zündholz war noch übrig.
Den Rest ihres Vorrates hatte sie bereits verbraucht, um in dem flackernden Schein ihr Verlies zu erkunden. Viel gab es da allerdings nicht zu entdecken, nur vier blau gestrichene Wände, deren Lackfarbe allenthalben abblätterte und unter der rostiges Metall zum Vorschein kam.
Ekelhafter Rost! Er war überall, auch Laura war inzwischen von Kopf bis Fuß damit bedeckt. Sie kam sich vor wie frisch patiniert, denn der feine Korrosionsstaub hatte sich mit ihrem Schweiß verbunden, sodass er zu einer öligen Pampe geworden war, die sie nun am ganzen Körper spürte, in den Haaren, im Gesicht, an den Händen, unter den Fingernägeln, auf der Zunge. Offenbar machte Rost im Mund einen durstigen Menschen zu einem noch durstigeren. Später hatten sich noch Ruß und Asche zum Rost hinzugesellt.
Ach ja, und dann waren da noch zwei Dutzend Kartons gewesen, die sie in einer Ecke des Containers gefunden hatte. Leider hatten sie lediglich Styropor und anderen Verpackungsmüll enthalten, doch Laura hatte darin eine Fluchtmöglichkeit erkannt. Im tanzenden Schein der Streichhölzer hatte sie die Tür des Containers in Augenschein genommen. Sie war doppelflüglig und füllte die gesamte Stirnwand aus, doch selbstverständlich verfügte sie weder über ein Schloss noch über eine Klinke. Wahrscheinlich wurde sie von draußen mit einem Metallriegel gesichert.
Laura war die wahnwitzige Idee gekommen, die Containerwand aufzuschweißen. Etwas Ähnliches hatte sie als Kind in einem Film gesehen, und obwohl sie von Anfang an gewusst hatte, dass es kompletter
Weitere Kostenlose Bücher