Sturmsegel
bleiben, weil man nicht wissen könne, wann Wallensteins Heer hier auftauche.
Auch im Kontor wollte sich nur selten sorglose Freude einstellen. Nettel und Sanne tratschten täglich über die wenigen Neuigkeiten, die sie in der Stadt, auf der Straße oder auf dem Markt aufschnappten.
Roland Martens schwieg jetzt häufiger in Gedanken versunken und saß abends lange in seiner Studierstube, wo er die Bücher durchging und Depeschen verfasste. Anneke, die sich noch immer nicht so recht an das weiche Bett gewöhnt hatte, hörte ihn manchmal in der Nacht durchs Haus schlurfen.
Zwischen ihr und ihrem Bruder sah es ebenfalls nicht besser aus. Ihr Verhältnis blieb weiterhin gespannt. Wenn der Vater in der Nähe war, ließen sie einander in Ruhe. Aber auch nur dann.
Einmal hatte Hinrich Hühnerdreck auf Annekes Kopfkissen geschmiert. Sie revanchierte sich daraufhin mit trockenen Hagebuttensamen, die Marte ihr am Strand mitgegeben hatte. Der Anblick des sich ständig kratzenden Jungen hatte Anneke einen ganzen Tag lang lächeln lassen.
Nettel schüttelte oftmals verständnislos den Kopf, sagte aber nichts. Sie war eine ruhige, freundliche Frau, die für keines der beiden Geschwister Partei ergriff. Nur wenn es Hinrich allzu arg trieb, tröstete sie Anneke damit, dass er Angst um seinen Bruder hätte und sich deshalb so verhielte. »Er glaubt, dein Vater hätte Sönke durch dich ersetzt.«
»Aber das ist doch nicht wahr!«, hielt Anneke dagegen.
»Ja, aber das mach mal einem Jungen klar, der in seinem großen Bruder seinen Helden sieht und ihn über alles liebt.«
Manchmal ging Anneke der Köchin zur Hand, wenn sie mit dem Unterricht fertig war. Eigentlich hätte sie das nicht gemusst, doch der Aufenthalt in der Küche hatte für sie etwas Vertrautes, denn er erinnerte sie an zu Hause und an ihre Mutter.
Manchmal, wenn sie loslief, um sich mit Marte zu treffen, machte sie einen Umweg über die Kiebenhieberstraße, um zu sehen, ob die Hütte noch stand. Ihr Vater hatte die Fenster und die Tür zunageln lassen, damit sich dort niemand einschlich und etwas stahl.
Die Trauer um ihre Mutter lastete noch immer schwer auf Anneke und oft gab es Nächte, da weinte sie sich in den Schlaf. Sie vermisste ihre Mutter sehr und nichts, was ihr Vater Gutes für sie tat, schien diesen Verlust auch nur annähernd aufwiegen zu können.
Oftmals ging sie zum Grab und erzählte der Mutter, wie es ihr erging. Einmal traf sie dabei den Pastor, der sie wegen ihres neuen Kleides verwundert anstarrte.
Mittlerweile besaß sie drei sehr schöne Gewänder, aber am liebsten trug sie das einfache braune Kleid für das Kontor. Sie half dort stundenweise aus, damit sie ihren Bruder besser kennenlernen konnte, wie ihr Vater betont hatte.
Außer von Sanne wurde Anneke von einem greisen Hauslehrer namens Petronius unterrichtet, der jede Woche einmal kam und versuchte, sie Algebra zu lehren. Das bisschen Rechnen, das ihre Mutter ihr beigebracht hatte, war für eine Kaufmannstochter zu wenig. Allerdings war dieser Unterricht nicht besonders erfolgreich, weil er manchmal Sätze nicht zu Ende sprach oder sogar mittendrin einschlief.
Nach und nach lernte Anneke auch Sanne und Nettel besser kennen und erfuhr, dass beide ihre kleinen Geheimnisse hatten.
Die Köchin genehmigte sich manchmal den einen oder anderen Becher Branntwein, was dazu führte, dass sie fröhlich vor sich hin summte und nicht schmeckte, wann sie zu viel Gewürz in die Speise gab.
Sanne hingegen hatte einen heimlichen Liebhaber. Er kam zwei Mal in der Woche zum Kaufmannshaus und warf Steinchen gegen das Fenster ihrer Kammer.
Da die Wände nicht besonders dick waren, bekam Anneke das mit und sie hörte auch, wie sich Sanne leise aus dem Haus stahl.
Als sie einmal aus dem Bett schlich und aus dem Fenster blickte, bemerkte sie zwei Gestalten im Schatten. Es handelte sich um ihre Kinderfrau und einen Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er trug ein Rapier an der Seite und die Uniform eines Stadtsoldaten. Die beiden küssten sich leidenschaftlich.
Da Anneke allein schon vom Zuschauen rote Ohren bekam, zog sie sich rasch zurück und kroch wieder in ihr Bett.
Am Morgen darauf wirkte Sanne sehr müde und Anneke fragte sich, was sie wohl die ganze Nacht über gemacht hatten – außer Küssen.
»Na was schon, Dummerchen?«, fragte Nettel, als sie danach fragte.
Doch eine richtige Antwort gab sie ihr nicht und so konnte Anneke nur Vermutungen anstellen, die sie erröten ließen.
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