Sturmsegel
Frauen marschierten in den Stall. Dort schien auf den ersten Blick alles wie immer zu sein. Die Pferde ließen von ihrem Heu ab und drehten ihre Köpfe nach den Hereinkommenden. Das Grunzen der Schweine tönte zu ihnen herüber.
»Hier lang«, sagte Nettel und führte sie tiefer in den Stall hinein. In der Ecke, in der die Futterfässer für die Tiere standen, ertönte ein leises Fiepen.
»Da!«, flüsterte die Köchin ängstlich und deutete auf den Boden.
Erst beim zweiten Hinsehen erkannte Anneke, dass es sich bei dem seltsamen Knäuel, das sich am Boden wand, um ein Dutzend Ratten handelte. Ihre langen Schwänze waren fest miteinander verknotet.
»Seht ihr das?« Die Köchin wich ein Stück zurück und raffte ihren Rock zusammen, damit ja kein Tier drunterschlüpfen konnte. »Das ist der Thron des Rattenkönigs. Auf ihm reist er und bringt Pest und Verderben in das Land.«
»Und wo ist der König?«, fragte Anneke, während sie fasziniert beobachtete, wie die Ratten verzweifelt auseinanderzulaufen versuchten. Ein paar nach links, ein paar nach rechts, die einen vor, die anderen zurück.
Wie soll ihr Herrscher auf einem Thron reisen, der sich nicht für eine Richtung entscheiden kann?, fragte sie sich.
»Er ist hier irgendwo«, beantwortete die schlotternde Nettel die Frage des Mädchens. »Bestimmt beobachtet er uns gerade.«
»Das ist Unsinn«, entgegnete die gebildete Sanne. »Diese Ratten stammen wahrscheinlich alle aus einem Nest und haben beim Schlafen unglücklich ihre Schwänze verschlungen. Es ist wie beim Garn, da bilden sich auch aus heiterem Himmel Schlingen und Knoten.«
Im nächsten Augenblick stürmte Hinrich in den Stall. Offenbar hatte er etwas von Nettels Geschrei mitbekommen. In der Hand hielt er eine große Schaufel, mit der er sogleich auf die bizarr miteinander verknoteten Tiere einschlug. Die Ratten, die nicht gleich tot waren, fiepten und wollten flüchten, doch es gab für sie kein Entrinnen. Hinrich schlug zu, bis sich keine mehr rührte.
»Wollen wir doch mal sehen, worauf der Rattenkönig nun reist«, rief der Junge triumphierend, als er die Schaufel, an der etwas Rattenblut klebte, herunternahm. »Wenn er mir persönlich über den Weg läuft, werde ich ihn auch erledigen.«
So sehr Anneke darüber froh war, dass die Ratten tot waren, überkam sie plötzlich doch ein wenig Mitleid mit den Kreaturen. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, dass Hinrich sie beobachtete. Offenbar hoffte er, dass sie sich ekelte. Aber Anneke tat ihm diesen Gefallen nicht. Sie fragte sich nur, ob an dem Gerede der Köchin doch etwas dran war. Immerhin stand das Verderben – der Krieg – direkt vor ihren Toren.
Anneke brannte darauf, dem Kaufmann bei seiner Rückkehr von dem Rattenkönig zu erzählen, doch Hinrich kam ihr zuvor.
»Ich habe den Thron des Rattenkönigs zerschlagen«, berichtete er stolz, als er zum Karren seines Vaters kam, der auf dem Hof haltmachte. Martens hatte eine Menge Handelsgut bekommen. Während Anneke aus dem Fenster schaute, verdrängte eine Frage ihren Ärger über Hinrich.
Woher hatte der Vater die Waren? Die Bauern und die Handwerker in der Umgebung konnten doch kaum so viel entbehren.
Bevor sie nachfragen konnte, rief Sanne sie wieder zum Unterricht.
Erst später am Nachmittag konnte sie ihrer Neugierde nachgeben. Die meisten Güter waren da bereits vom Wagen abgeladen worden, aber als Anneke durch die Kontorstür spähte, entdeckte sie Stoffballen und Gewürze. Diese Dinge boten die Bauern hier gewiss nicht feil.
War ihr Vater übers Land gefahren? Nach Wismar oder Rostock? Dafür hätte die Zeit jedoch nicht gereicht.
»Was glotzt du so?«, fuhr Hinrich sie an, als er sie neben dem Wagen bemerkte.
»Hast du mir neuerdings vorzuschreiben, was ich tun und lassen soll?«, fauchte sie zurück.
Hinrich schnaufte verdrossen und kam auf sie zu. »Steh mir nicht im Weg«, sagte er und versetzte ihr einen Stoß, der sie stolpern ließ. Anneke taumelte und landete schließlich auf dem Boden.
»Schietbüddel!«, zischte sie und erhob sich. Hinrich kümmerte sich nicht darum, sondern lud einen weiteren Ballen auf seine Schulter.
Anneke starrte wütend hinterher und beschloss, ihm bei nächster Gelegenheit ein Bein zu stellen.
*
Am Abend bekam Roland Martens Besuch. Keineswegs unerwartet, wie es schien. Die ganze Zeit schon hatte er den Eindruck erweckt, als würde er auf etwas warten. Als Dr. Lambert Steinwich, der Bürgermeister Stralsunds, schließlich an den
Weitere Kostenlose Bücher