Sturmsegel
erkannte sie das königliche Schiff, das ganz in der Nähe am Ausrüstungskai lag. Arbeiter waren gerade mit der Takelage des Besanmastes beschäftigt.
Die Beleidigung ihrer Tante und das Lachen ihrer Gäste waren vorerst vergessen. Anneke hatte jetzt nur noch Augen für die mächtigen Löwen, die die Galerie und die Stückpforten des Schiffes zierten. Daneben gab es Skulpturen von nackten Frauen, die wohl Meeresgöttinnen darstellen sollten. Auch in Stralsund hatten Schiffe solchen Zierrat getragen. Größtenteils fehlte noch der Anstrich, aber schon jetzt konnte man erahnen, wie der Koloss aussehen würde, wenn er erst einmal in See stach.
In ihrer Versunkenheit hörte sie nicht, wie sich ihr jemand näherte.
»Får ja hjälpa på dig?«, fragte plötzlich eine Stimme hinter ihr.
Anneke wirbelte erschrocken herum. Ein Junge, der vielleicht zwei oder drei Jahre älter war als sie, lächelte sie freundlich an. Er war recht groß, hatte lange Arme und Beine und braunes Haar, das im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden war. Über seinen Kleidern trug er eine Schürze, auf seinen Wangen prangten ein paar Rußflecken. Obwohl er mehr als zwei Armeslängen von ihr entfernt stand, konnte Anneke erkennen, dass seine Augen blau wie der Winterhimmel waren.
»Ich verstehe nicht«, brachte Anneke hervor und hob hilflos die Hände. Gewiss verstand sie der Junge ebenso wenig.
»Du bist Deutsche«, stellte er dann fest, überraschenderweise in ihrer Muttersprache. Sein Akzent ähnelte dem der Magd, war aber weniger ausgeprägt.
Anneke konnte ihr Glück gar nicht fassen. »Ja, ich bin gerade erst in Stockholm angekommen und verstehe leider kein Schwedisch.«
Der Junge lächelte sie breit an und kam näher. »Dann solltest du es lernen. Hier in Stockholm gibt es nicht viele Deutsche.«
Anneke kam nicht umhin, sein Lächeln zu erwidern.
»Ich bin Ingmar«, stellte sich der Junge vor. »Und wie heißt du?«
»Anneke.«
»Ein schöner Name. Klingt fast ein bisschen schwedisch. Was hat dich hierher gebracht?«
»Mein Vater hat mich wegen der Belagerung unserer Stadt Stralsund nach Schweden geschickt.«
Der Name schien dem Jungen etwas zu sagen. »Dann sind die Gerüchte also wahr.«
»Du hast davon gehört?«
»Auch wenn wir hier ein gutes Stück vom Krieg entfernt sind, verfolgen wir doch, was in Deutschland geschieht. Die Schiffsbauer haben gute Kontakte zu den Seeleuten und die bringen die Geschichten mit.«
Dann werden sie auch die Ersten sein, die wissen, wann die Belagerung vorüber ist, ging es dem Mädchen durch den Sinn.
»Und was machst du hier beim Schiffsbauhof?«, wollte Ingmar wissen. »Mädchen verirren sich nur selten hierher.«
»Ich habe das Schiff dort vom Hafen aus gesehen, als wir hier angelegt haben«, erklärte Anneke. »Ein Seemann erzählte mir, dass es den Namen Vasa trägt.«
Der Junge lachte auf. »Nein, bis jetzt heißt es noch nicht so. Aber bald, wenn es getauft wurde. In ein paar Wochen ist es fertig, dann wird es seine Jungfernfahrt antreten.«
»Ingmar!«, donnerte eine Stimme im Hintergrund, bevor der Junge noch mehr erklären konnte.
Anneke seufzte bedauernd.
»Ich muss leider wieder zurück«, sagte Ingmar und zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Wenn du willst, bleib noch ein bisschen hier und schau uns zu. Aber dass du niemandem vor die Füße läufst, das mögen die Männer hier nicht. Außerdem ist es gefährlich.«
Damit lächelte er sie noch einmal an und verschwand dann in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war.
Anneke blickte ihm nach und spürte eine merkwürdige Unruhe in ihrer Brust. Bislang hatte sie sich nicht sehr für Jungen interessiert. Hinrich, ihr Halbbruder, war unausstehlich und steckte jetzt wer weiß wo. Und die anderen Jungen in Stralsund hatten sie entweder beschimpft oder ihr Streiche gespielt.
Ingmar war ganz anders. Allzu gern hätte sie mehr über ihn erfahren.
Lautes Rufen riss sie allerdings aus ihren Träumereien fort. Ein schwer beladener Wagen rumpelte auf den Schiffsbauhof. Der Kutscher zügelte die beiden riesigen Kaltblüter, während Arbeiter herbeieilten, um die Last abzuladen.
Anneke erkannte nun, dass im Schiffsbauhof bereits ein zweites Schiff auf Kiel gelegt worden war. Es war nicht mal halb so groß wie die Vasa, die wohl das Schmuckstück dieser Werft darstellte, aber zu sehen, wie ein Schiff entstand, faszinierte sie. Der Schiffskiel mit seinen Sparren wirkte wie das Skelett eines Fisches. So müssen die Knochen eines
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