Sturmsegel
rumliegen?«
Anneke war sprachlos. Selbst in Stralsund hatte sie nicht gesehen, dass reiche Leute ihre Kleider auf dem Markt verkaufen ließen. Was sie nicht mehr trugen, gaben sie ihrem Personal oder verschenkten es als Almosen ans Armenhaus. Dass Frieda es nicht so hielt, passte aber zu dem ersten Eindruck, den sie von ihr bekommen hatte. Sie und ihr Bruder waren offenbar grundverschieden.
Die zweite Überraschung erwartete Anneke, als sie in die Truhe schaute. Sogleich fragte sie sich, in welchem Überfluss die Tochter des Hauses lebte, wenn sie Kleider wie diese einfach ausmusterte. Keines der Gewänder hatte große Makel, hier und da war mal eine Spitze ein wenig verschlissen oder eine Naht hatte sich etwas gelöst. Mit Nadel und Faden hätten diese kleinen Schäden leicht beseitigt werden können.
Aber wahrscheinlich wäre das für eine Bollerstrue nicht fein genug!
Anneke entschied sich für ein veilchenblaues Kleid mit dunkelblauem Unterrock, das zwar ein wenig altmodisch aussah, dafür aber ein nicht ganz so enges Schnürmieder hatte. Der Stoff war weicher als alles, was sie bisher unter die Finger bekommen hatte. Sichtbare Schäden hatte das Gewand nicht und so betrachtete Anneke es durchaus als Geschenk.
Als sie sich mit Gretas Hilfe umgezogen hatte und im Spiegel betrachtete, erkannte sie sich beinahe selbst nicht mehr. Die Farbe des Kleides passte zu ihrem weizenfarbenen Haar, ließ ihren Teint leuchten und verlieh ihren Lippen einen rosa Schimmer. Friedas Tochter, deren Haare dunkel waren, hatte in diesem Kleid sicher ein wenig käsig ausgesehen. Aber für Anneke schien es geradezu gemacht zu sein.
Das fand offenbar auch die Magd, die sie mit großen Augen anstarrte. Aber sie erholte sich rasch wieder von ihrem Staunen, als ihre Herrin nach ihr rief.
»Komm jetzt«, sagte sie zu Anneke, während sie der Tür zustrebte. »Ich will wegen dir keinen Ärger kriegen.«
Das sollte sie auch nicht, nachdem sie ihr zu solch einem Kleid verholfen hatte. Anneke folgte ihr und verzog sich dann in die Kammer, wo sie noch ein paar Augenblicke damit verbrachte, den Stoff des Rocks zu befühlen.
Sie wagte nicht zu hoffen, es mitnehmen zu dürfen, doch wenn Frieda Bollerstrue vergaß, es zurückzufordern, würde sie es Marte zeigen und es ihr vielleicht auch einmal ausleihen.
Abends, als sie sich nach einer Mahlzeit aus Grütze und Hühnchen auf den Strohsack legte, dessen Füllung sie trotz des darüber gebreiteten Lakens in den Rücken stach, dachte Anneke wieder an Stralsund. Das Haarband ihrer Mutter wickelte sie dabei gedankenverloren um ihre Hand.
Wie ging es Marte? Hielten die Stralsunder Mauern stand? Wie heftig waren die Kämpfe? Und was war mit Sanne und ihrem Liebsten?
Auch an ihren Vater dachte sie, wenngleich ihre Gefühle ihm gegenüber nicht mit jenen für ihre Mutter vergleichbar waren. Schließlich fragte sie sich sogar, was aus Hinrich geworden war. Hatte sein Vater ihn vielleicht erwischt? Oder hatte er sein Vorhaben in die Tat umgesetzt? Obwohl sie ihn immer noch nicht mochte, hoffte sie doch, dass er nicht umgebracht würde. Sie hoffte es allein schon ihrem Vater zuliebe.
Ihr Blick wanderte nun aus dem Fenster. Obwohl es schon spät war, dunkelte es noch nicht. Die Farbe des Himmels schwankte irgendwo zwischen rosa und blassblau und die Häuser gegenüber waren deutlich zu erkennen.
Merkwürdig, dachte Anneke, kam aber nicht mehr dazu, sich Gedanken darüber zu machen, denn der Schlaf zog sie mit sanften Armen in sein Reich.
*
Am nächsten Morgen hatte sich die Stimmung im Kaufmannshaus nicht geändert. Anstatt Anneke durch die Räume zu führen und ihr etwas über die Stadt zu erzählen, behandelte Frieda sie wie Luft. Ihre Tochter, von der Anneke immerhin schon wusste, dass sie Magdalena hieß, ließ keine Gelegenheit aus, sie mit Grimassen und abschätzigem Lächeln zu bedenken und Greta beantwortete ihre Fragen nur widerwillig.
Auch in anderer Hinsicht machte man ihr klar, dass sie in diesem Haus kein willkommener Gast war. Als wäre sie eine Magd, musste Anneke mit dem Personal in der Küche essen. Dort kam es ihr vor, als gönnte man ihr das bisschen Hafergrütze in ihrer Schüssel nicht. Die anderen Mägde beäugten sie, teilweise neugierig, teilweise missgünstig. Keine von ihnen sprach in ihrer Gegenwart ein Wort, obwohl ihr doch noch beim Betreten der Küche munteres Geplapper entgegengeschlagen war.
Tagsüber wusste Anneke nicht so recht, was sie tun sollte.
Ihre Tante
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