Sturmsegel
ist es offen, schoss es Anneke durch den Sinn. Sie konnte sich vorstellen, dass die Kaufmannswitwe ihren Knechten angeordnet hatte, es gegen Abend zu verschließen.
Ein Kreischen hallte plötzlich hinter ihr über den Hof. Als Anneke sich umsah, erkannte sie, dass die Tante der Länge nach in den Schmutz gestürzt war. Wahrscheinlich hatte sie sich in ihren eigenen Röcken verfangen.
Anneke kümmerte sich nicht darum und stieß den Torflügel auf.
*
Obwohl Frieda ihr nicht mehr folgte, rannte Anneke so schnell sie konnte durch das abendliche Stockholm. Der rote Sonnenball schwebte noch immer über dem Horizont, als hätte er gar nicht vor, jemals unterzugehen.
Als die Furcht aus ihrem Körper wich, begann sie zu weinen. Wie konnte ihre Tante sie nur so behandeln? Immerhin war sie eine Verwandte und ihr Bruder hatte ihr aufgetragen, gut für seine Tochter zu sorgen!
Niemand wird mich je in dieses Haus zurückbringen!, schwor sich Anneke, während sie die Tränen von den Wangen wischte.
Sie hatte keine Ahnung, wohin sie gehen und was sie machen sollte. Der Gedanke, bei Ingmar Hilfe zu suchen, kam ihr, doch sie erinnerte sich daran, wie sein Vater auf das Unglück mit den Holzstämmen reagiert hatte. Außerdem wusste sie nicht, wo er wohnte. Besser sie suchte sich eine andere Unterkunft.
Während sie durch die Straßen irrte, auf der Suche nach einer Möglichkeit, die Nacht zu verbringen, tönte ihr schließlich der Lärm aus einem Schankhaus entgegen. Jemand spielte auf der Fidel ein Lied, ein paar Männer sangen dazu. Dazwischen erklang raues Lachen und das Juchzen von Frauenstimmen.
Anneke befand sich nun in der Nähe des Hafens, wie ihr der fischige Geruch verriet.
Möglichkeiten, hier zu übernachten, gab es nicht, aber ihr kam eine Idee. Vielleicht brauchte der Wirt oder die Wirtin Hilfe?
Böden schrubben und Krüge schleppen konnte sie und es erschien ihr besser, als weiterhin Friedas Launen ausgesetzt zu sein. Außerdem konnte sie so vielleicht das Geld für die Rückreise nach Stralsund verdienen.
Auch wenn sie wusste, dass sich ehrbare Mädchen um diese Zeit nicht in Tavernen blickten ließen, beschloss sie, es dort zu versuchen.
Der Striemen über ihrem Hals pochte ganz furchtbar. Dünne Blutfäden liefen über ihr Schlüsselbein und versickerten in ihrem Hemd.
Anneke fragte sich in diesem Augenblick aber nicht, was die Leute von ihr denken würden. Sie wollte nur ein Dach über dem Kopf, möglichst weit von Frieda Bollerstrue entfernt.
Nachdem sie eine Gasse durchquert und um zwei Ecken gebogen war, sah sie die Schenke vor sich.
Gulden Sked stand in dicken Lettern auf dem Tavernenschild, das in der Abendbrise leicht vor sich hin schaukelte. Diese Worte bedeuteten so viel wie ›goldener Löffel‹, wie ihr die Zeichnung auf dem Schild verriet.
Ein paar Männer standen davor, in ihrer Mitte eine Frau, die lachend ihren Kopf in den Nacken warf. Sie schenkten dem Mädchen keine Beachtung, als es an ihnen vorbeiging.
Wohlige Wärme strömte Anneke entgegen, als sie die Schenkentür öffnete. Die Gespräche und das Fidelspiel wurden nun lauter, eine Frau beschwerte sich lauthals über etwas.
Als sie eintrat, erkannte sie, dass die Musik von einem in Lumpen gehüllten Mann kam, der etwas abseits von den anderen saß und vollkommen in seine Tätigkeit versunken war. Die Männer saßen an grob gezimmerten Tischen beisammen und stießen ihre Humpen aneinander. Hier und da hatte einer von ihnen eine Frau auf dem Schoß, deren Dekolleté so tief war, dass Anneke bei dem Anblick errötete.
Glücklicherweise nahmen nur wenige Gäste Notiz von ihr. Ein paar Männer lachten und pfiffen ihr hinterher, aber Anneke tat so, als hörte sie es nicht. Sie schritt schnurstracks zur Theke, wo ein recht kräftig gebauter Mann mit Halbglatze gerade Bierkrüge füllte.
Zunächst würdigte er sie keines Blickes, als er den letzten Humpen jedoch an eine Schankmagd weitergereicht hatte, wandte er sich um.
Seine Augen waren so hell und blickten so stechend, dass Anneke ein Stück zurückwich.
Er stellte ihr eine Frage auf Schwedisch und Anneke bemühte sich, mit Gesten und den wenigen Brocken, die sie von Greta aufgeschnappt hatte, in dieser Sprache zu antworten.
»Ich suche … Arbeit.«
»Du bist Deutsche?«, fragte er daraufhin auf Deutsch, denn natürlich hatte er ihren Akzent erkannt.
Anneke nickte. »Ich kann nur ein paar Worte Schwedisch.«
»Na macht ja nichts, ich verstehe dich«, entgegnete der Wirt
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