Sturmsegel
Familie zu helfen, doch sie konnte nicht.
Ein wenig beneidete sie Hinrich nun darum, dass er den Mut gehabt hatte, sich dem Wunsch des Vaters zu widersetzen. Welches Schicksal ihm widerfahren war, wusste sie nicht, aber immerhin hatte er die Chance ergriffen, etwas zu tun.
Sie hingegen saß in Schweden fest, und auch wenn Frieda Bollerstrue sie lieber heute als morgen los wäre, so würde sie gewiss keinen einzigen Taler dafür ausgeben, dass ein Schiff sie fortbrachte.
Und selbst wenn es ihr gelänge, auf ein Schiff zu kommen, vielleicht als Schiffsjunge verkleidet, würde die Fahrt wieder mehr als eine Woche dauern. Zu lange, um ihrem Vater, Marte, Sanne und den anderen die Warnung zu überbringen.
Stralsunds Mauern hielten entweder stand oder sie taten es nicht und Gebete waren alles, was man in die Stadt senden konnte.
Bevor sich der schwarz gekleidete Mann zum Gehen wenden konnte, entschied Anneke, kehrt zu machen.
In Stockholm war es für sie schwierig, die Zeit anhand des Sonnenstandes abzuschätzen, da die Abende und Nächte so hell waren. Diesmal kam ihr der Dom auf der Stadtinsel zu Hilfe, dessen Glocken kaum, dass sie um die Ecke gebogen war, acht Mal schlugen.
Es war schon acht Uhr abends!
So lange war sie bisher noch nie aus dem Kaufmannshaus fortgewesen. Sicher waren die Mägde inzwischen bereits fertig mit dem Abwasch und das Essen, das Greta ihr gewiss wieder aufgehoben hatte, war trotz ihrer vorausschauenden Fürsorglichkeit kalt.
Als sie das Kaufmannshaus erreichte, hatten sich die Straßen bereits geleert. Zwei Katzen aus der Nachbarschaft veranstalteten ein lautes Geschrei, wahrscheinlich passte einer die Anwesenheit der anderen nicht. Anneke betrachtete die Tiere kurz, als sie durch das Hoftor ging. Sie streifte die Holzpantinen von den Füßen und trat ein.
Die Küche war verlassen. Nur schwach glomm noch das Herdfeuer, sämtliche Töpfe waren fortgeräumt worden.
Abendessen würde es diesmal keines für sie geben, es sei denn, sie nahm sich einen Kanten Brot.
Vorher wollte sie aber erst einmal ihr Kleid wechseln, das von dem Sturz in den Matsch vollkommen verdorben war.
Der Gertenstreich kam wie aus dem Nichts und traf sie quer über den Rücken. Anneke schrie auf und wirbelte herum. Da traf sie auch schon der zweite Streich, direkt über Hals und Schulter. Ihre Haut platzte auf und sogleich quoll Blut hervor. Die Tränen, die ihr in die Augen schossen, verschleierten das Bild ihrer wutschnaubenden Tante.
»Undankbares Balg«, zischte diese und verpasste Anneke noch einen Schlag, der sie diesmal nur am Arm traf. »Wo zum Teufel hast du dich rumgetrieben? Und wie siehst du aus? Wie ein Schweinehüter!«
»Ich war nur …«
»Schweig!«, brüllte ihre Tante sie an. Ihr Gesicht war eine wutverzerrte Fratze. »Du bist genauso eine kleine Hure wie deine Mutter! Wer weiß, worin du dich gewälzt hast und mit wem! Und ich füttere dich auch noch durch!«
»Meine Mutter war keine Hure«, rief Anneke laut. Sie wusste selbst nicht, woher sie auf einmal den Mut nahm. Die Worte kamen ihr wie von selbst über die Lippen. »Du hast kein Recht, so von ihr zu reden, denn du hast sie nie gekannt!«
Frieda schnappte nach Luft. Nicht nur, dass das Mädchen sie respektlos angesprochen hatte, sie war es auch nicht gewohnt, Widerworte einstecken zu müssen.
»Na warte, ich werde dich lehren, was Respekt heißt!«, kreischte sie plötzlich und holte erneut aus.
Da reichte es Anneke plötzlich. Sollte ihre verfluchte Tante doch zur Hölle fahren!
Bevor die Gerte sie erneut treffen konnte, stürmte sie vor und versetzte Frieda Bollerstrue einen kräftigen Stoß, der sie nach hinten taumeln ließ. Die Kaufmannswitwe verlor das Gleichgewicht und fiel mit einem erstickten Aufschrei neben die Treppe.
»Wenn ich dich kriege, prügle ich dich windelweich!«, drohte sie und kam überraschend schnell wieder auf die Beine.
Anneke blieb keine Zeit, ihr Bündel zu holen.
Sie wirbelte herum und eilte zum Hinterausgang. Ihr Herz raste. Jetzt wurde ihr erst bewusst, dass sie mit ihrer Gegenwehr das Dach über dem Kopf verspielt hatte. Aber daran war nichts mehr zu ändern. Und weiter prügeln lassen wollte sie sich nicht!
Frieda hetzte ihr mit einem Wutschrei hinterher, doch das Mädchen war schneller.
Sie stürmte quer durch die Küche, fegte dabei ein paar Kohlköpfe vom Küchentisch und verließ schließlich das Haus. Nachdem sie rasch in ihre Pantinen geschlüpft war, rannte sie zum Tor.
Hoffentlich
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