Sturmsegel
dass sich eine seiner Mägde heimlich aus dem Staub machte.
Während sie Inga in der Nähe des Tresens werkeln hörte, stellte sich Anneke neben den Türrahmen und spähte vorsichtig dahinter hervor.
»Kannst rauskommen, ich weiß, dass du da bist!«, sagte Inga plötzlich.
Anneke überlief es heiß und kalt. Die Wirtin klang, als hätte sie den Verstand verloren!
»Mein Sohn ist ertrunken«, redete sie vor sich hin, als Anneke zögerlich hinter dem Türrahmen hervortrat. »Mein Lasse würde sich im Grab herumdrehen, wenn er es wüsste! Doch er musste Magnus sagen, dass er mich heiraten soll. Er hätte es bleiben lassen sollen. Es hat uns nur Unglück gebracht.«
»W… was habt Ihr vor?«, presste Anneke hervor.
»Sie werden mich nicht holen!«, zischte Inga und ihre Augen schienen nun Funken zu sprühen. »Ich weiß, dass er mich angezeigt hat. Mögen sie ihn diesmal noch verlacht haben, mögen sie sich erst einmal um das Schiff kümmern, eines Tages werden sie kommen. Aber mich holen sie nicht, das schwöre ich! Und nun geh, Mädchen, geh, wie du es vorgehabt hast. Hier gibt es nichts mehr für dich!«
Anneke war einen Moment lang starr vor Schreck. Ihre Gedanken wirbelten wirr durcheinander und eine schreckliche Ahnung überkam sie.
Die plötzlich scharfe Stimme der Wirtin traf sie schließlich wie ein Peitschenhieb. »Lauf, endlich, sonst rufe ich Magnus! Der wird dich lehren, ohne Dank zu verschwinden!«
Da wirbelte Anneke herum und stürmte zur Tür. Mit zitternden Händen drehte sie den Schlüssel im Schloss herum und tauchte schließlich ein in die frische Morgenluft.
Was Inga vorhatte, wollte sie nicht wissen. Sie hatte in den vergangenen Wochen in diesem Haus genug menschliches Elend kennengelernt.
*
Der Hafen war um diese Zeit noch ruhig. Die Stille wurde nur stündlich vom Glasen unterbrochen, das den Seeleuten die Zeit anzeigte und schließlich zum Wachwechsel aufrief. Anneke wusste, dass mit den beiden Glockenschlägen während der Morgenwache die fünfte Stunde angezeigt wurde. Als Tochter Stralsunds war ihr der Glockenschlag auf den Schiffen nur allzu gut bekannt, die Menschen, die in Hafennähe wohnten, vertrauten ihm bei der Zeitangabe noch mehr als den Kirchenglocken.
Die Schiffe, welche an den Kais festgemacht hatten, wurden von den Wellen gewiegt, ihre Masten schwankten einträchtig im Morgenlicht.
Menschen waren um diese Zeit noch nicht zu sehen, nur ein paar Hunde hatten sich bereits auf die Suche nach etwas Fressbarem gemacht.
Am Kai angekommen blickte sie sich suchend nach Ingmar um. Zunächst konnte sie ihn nicht entdecken und beinahe fürchtete sie schon, dass sie zu spät war.
Doch dann bogen zwei dunkel gekleidete Gestalten um die Ecke. Sie hatten die Hüte tief in die Gesichter gezogen, ihre schwarzen Mäntel flatterten in der Morgenbrise.
In der Hand trugen beide jeweils einen Seesack, in den sie das Nötigste gepackt hatten.
Anneke war zunächst nicht ganz sicher, ob es sich um Ingmar und seinen Vater handelte. Sie wartete, bis einer von ihnen sie bemerkte und ihr zuwinkte. Dann lief sie zu ihnen.
»Du bist da!«, rief Ingmar freudig, während er sie umarmte.
»Ich danke Euch, dass ich mitkommen darf«, wandte sie sich an Hendrick Svensson.
Der Mann nickte. »Mein Sohn hat mir deswegen kräftig in den Ohren gelegen. Offenbar liegt ihm sehr viel an dir.«
»Wäre es nicht besser, wenn ich mich als Junge verkleiden würde?«, bemerkte sie, als sie sich dem Schiff näherten. Dabei zwang sie sich, nicht zur Schenke zurückzublicken. Egal, was dort vorging, sie wollte es nicht wissen.
Der Schiffsbauer schüttelte den Kopf. »Der Kapitän unseres Schiffes ist nicht abergläubisch. Außerdem macht es keinen Unterschied, in welchen Kleidern du steckst.«
Sie gingen weiter an den hohen Lagerhallen vorbei. Anneke erblickte im Schatten einen Mann, der neben einer Fischkiste schnarchte. Ein paar Katzen waren auf der Suche nach Mäusen, Möwen hockten unbeteiligt auf den Kaipfosten.
Nach einer Weile tauchte die Santa Lucia vor ihnen auf. Die Karacke hatte zwei Masten und war eines der wenigen Schiffe, von dem bereits Lärm zu hören war.
»Wenn du möchtest, kann ich den Kapitän bitten, zwischendurch Kurs auf Stralsund zu nehmen«, bemerkte der Schiffsbauer.
Anneke blickte erschrocken zu Ingmar. Natürlich wollte sie gern wieder nach Hause. Aber ihn wollte sie nicht verlieren! Nicht jetzt, wo sie dabei war herauszufinden, wie es war, verliebt zu sein.
»Nein, ich
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