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Sturmsommer

Sturmsommer

Titel: Sturmsommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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hier irgendwie heil rauskommen möchte, muss ich wohl meine Klappe halten. Sie rutscht von der Fensterbank und macht den MP3-Player aus.
    »Was ist?«, fragt sie unwirsch.
    »Ich dachte, du könntest mir vielleicht den Nacken massieren.«
    »Was soll ich?«
    »Och bitte«, sage ich. »Ich hab ihn mir gestaucht beim Reiten, mir tut alles weh, echt. Das hast du doch früher auch immer getan.«
    »Früher. Früher war alles anders.« Dann merkt sie selbst, wie dramatisch das klingt und beißt sich auf die Zunge. Ich kann Chris nicht leiden, aber manchmal wünschte ich, die beiden wären noch zusammen. Lissi ist nicht mehr die liebe Schwester von früher. Und jetzt wartet sie auch noch darauf, dass er zurückkommt.
    »Okay, na gut«, winkt sie mich zu sich rüber. Ich setze mich mit dem Rücken zu ihr auf den Boden und beuge meinen Kopf nach vorne. Schon nach wenigen Sekunden hab ich den Verdacht, dass sie ihren Männerfrust an meinem Hals auslässt. Aber ich bleibe sitzen und ertrage es still, denn wenn sie mein Gesicht nicht sehen kann, fällt es mir leichter, über Tanja zu reden.
    »Du hattest übrigens recht mit deinem Verdacht«, nuschle ich.
    »Bitte?« Sie hört kurz auf, meine Halsmuskeln zu quetschen. Ich nutze die Gunst der Stunde und drehe mich weg.
    »Tanja scheint wirklich in mich verliebt zu sein.« Ich krame den Brief aus der Hosentasche und gebe ihn ihr.
    »Ach du Heiliger«, murrt Lissi angesichts des winzig zusammengefalteten Papiers. Es lag wie ein Stein in meiner Hosentasche. Dann liest sie. Am Schluss muss sie plötzlich lachen. Ich wusste gar nicht, dass sie das noch kann.
    »Was ist denn daran so lustig?«, frage ich. »Das ist ‘ne Katastrophe.«
    »>Ich< ist schließlich eins deiner Lieblingswörter«, zitiert sie und grinst mich an.
    »Das ist also witzig?« Ich finde, es klingt beleidigend. Sehr beleidigend.
    »Wo sie recht hat, hat sie recht, du kleiner Egoist. In letzter Zeit gibt’s nur noch dich und die Reitferien und alles andere ist Nebensache. Ist doch so, oder? Am liebsten würdest du die Welt regieren.«
    Verwechselt sie mich jetzt wieder mit Chris? Oder stimmt das etwa?
    »Was soll ich denn jetzt tun, verdammt noch mal?« Ich hatte wirklich etwas anderes erwartet als neue Vorwürfe.
    »Nichts, würde ich sagen.« Sie zuckt mit den Schultern.
    »Nichts?«
    »Ja. Nichts. Ihr habt nun klare Verhältnisse. Sie wollte es wohl einfach sagen. Vielleicht geht es ihr damit besser. Aber sie erwartet ja nichts.«
    »Meinst du denn, ihr ging es schlecht?«, hake ich nach.
    »Tom, mal ganz ehrlich. Wirkt Tanja auf dich wie ein glückliches Mädchen?« Lissis Blick ist sehr ernst. Es ist wieder einer dieser Momente, in denen sie so schrecklich erwachsen ist.
    »Ich hab mir darüber nie Gedanken gemacht«, stottere ich.
    »Genau das meinte ich vorhin mit dem Egoismus.«
    Na ja, ich kann Tanja nicht leiden, deshalb ist es doch logisch, dass ich mir keine Gedanken gemacht habe, wie es ihr geht. Aber Lissi scheint momentan alle unglücklichen Frauen in ihr Herz zu schließen. Ich schlucke meinen Kommentar runter.
    Vielleicht liegt sie trotzdem nicht verkehrt. Vielleicht ist es das Beste, so zu tun, als wäre nichts gewesen. Eigentlich könnte ich den Brief jetzt wegwerfen. Aber ich stecke ihn wieder in meine Hosentasche. Irgendwie will ich ihn nicht zerreißen oder verbrennen. Keine Ahnung, warum.
    »Möchtest du wieder aus dem Fenster gucken?«, frage ich Lissi vorsichtig. Sie seufzt und fährt sich durch die Haare.
    »Er kommt ja doch nicht wieder. Und selbst wenn er kommen würde - ich wollte ihn gar nicht mehr. Aber ich will Gerechtigkeit.« Ich verstehe kein Wort, nicke aber, weil mir Lissi momentan so gefährlich vorkommt. Unberechenbar.
    Sie hat sich verändert. Sie sitzt nur noch in ihrem Zimmer oder macht lange Spaziergänge mit Henri. Wenn ich ihr bloß irgendwie helfen könnte. Aber selbst wenn ich wüsste, wie - ich glaube, sie würde es aus Prinzip ablehnen. Ich bin ja nur ihr egoistischer kleiner Bruder.
    »Wie war eigentlich Mathe?« Sie setzt sich auf ihr Bett und bindet sich die Haare zusammen. Mir fällt wieder auf, wie hübsch sie ist. Mit ihrem Engelsgesicht. Ich bin immer noch stolz auf sie. Egal, wie traurig sie ist.
    »Besser als das letzte Mal.« Hab ich tatsächlich heute Mathe geschrieben? Liegt das nicht schon Wochen zurück? Ich lehne mich an das Bett und versuche, mich an heute Morgen zu erinnern. An die Zahlen und Gleichungen und an mein Gefühl… reicht es für eine

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