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Sturmsommer

Sturmsommer

Titel: Sturmsommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Tanjas Formel. Sie sitzt vor mir und scheint schon fertig zu sein. Toni neben mir wagt nicht, mich anzuschauen. Ich muss furchtbar ausgesehen haben, als ich ins Klassenzimmer kam.
    Noch drei Minuten. Okay, das, was ich habe, muss reichen. Was ich jetzt noch rechne, macht auch nichts mehr gut. Mein Magen zieht sich heftig zusammen. Auf einmal merke ich, dass ich Hunger habe. Und was für einen Hunger. Ich muss an ein Steak denken und bin mir sicher, dass ich nicht mehr bis zum Mittagessen warten kann. Endlich wieder Hunger. Ich lehne mich zurück und spüre, dass mein Nacken schmerzt. Ich bewege vorsichtig meinen Hals. Der Schmerz wandert schneidend bis in die Schläfen.
    Erst als Frau Schilfer die Arbeiten eingesammelt hat, traut sich Toni, mich anzublicken. Er schaut, als hätte er Angst vor mir. »Und?«, fragt er vorsichtig. Im selben Moment sehe ich aus den Augenwinkeln, dass Tanja sich ebenfalls zu mir umdreht. »Was und?«, sage ich und versuche so ausdruckslos wie möglich zu gucken. Das habe ich in den vergangenen Wochen so oft geübt, dass es mir eigentlich mal glücken könnte. Mit den Augen gebe ich ihm eines von diesen Zeichen, die nur Leute verstehen, die sich schon Jahre kennen.
    Ich weiß nicht, ob er es kapiert, aber er blickt still zu Boden. Ich drehe mich wieder um und merke, dass Tanja immer noch zu mir rübersieht. Ich schaue durch sie hindurch, so gut ich kann. Also nicht besonders gut. Sie hat Augen, die man schlecht ignorieren kann. So - ach, ich weiß auch nicht. Ich vermeide es, da hineinzugucken. Ganz anders als bei Marc. Seine Augen sind wie stille Seen. Beruhigend. Tanjas Augen sind alles andere als beruhigend. Sondern wie graues Feuer, das ständig lodert und züngelt.
    Deutsch vergeht wie im Flug. Ich sitze nur da und träume vom Essen. Von mächtigen Schnitzeln mit Pommes und Mamas Tiramisu.
    »Heute Nachmittag See?«, fragt Anja in die Runde.
    »Nee, Stall«, grunze ich. Ich kann kaum sprechen. In meinem Mund steckt ungefähr ein halber Streuselkuchen. Es ist wieder heiß, schon jetzt, in der zweiten großen Pause. Am Himmel kreischen die Schwalben. Ich will zu Damos, am besten gleich.
    »Na, das war ja klar«, brummelt Toni enttäuscht.
    »Kannst mit, wenn du willst«, grinse ich. »Musst eh noch üben.«
    »Ja, ja … schon gut.« Ich sehe es bereits kommen, dass er der Einzige ist, der sich von Station zu Station im Versorgungswagen kutschieren lässt. Wenn er nicht ein bisschen übt, gibt das eine Katastrophe in den Ferien.
    »Ich war gestern reiten. Auf einem Isländer«, sagt Marc stolz. Ich kann mir gerade so die Bemerkung verkneifen, dass Isländer ideale Pferde für schwergewichtige Jugendliche sind.
    »Und?«, frage ich stattdessen und schlucke. Der Kuchen ist staubtrocken, und als ich huste, habe ich ein kleines Puderzuckerwölkchen vor dem Gesicht.
    »Schön«, antwortet Marc und strahlt über beide Backen. »Kann ich verstehen, dass du in den Stall willst.«
    Na wenigstens einer. »Ich kann ja nachkommen«, sage ich, sehe aber an den Blicken der anderen, dass mir das sowieso niemand glaubt. Ich glaube es ja selbst nicht.
    Ich hätte es mir eigentlich denken können. Aber ich war zu leichtsinnig, zu glücklich, zu froh. Zu unkonzentriert. Ich hab das lässig zur Seite geschoben, als er schnaubte und bockte. Hab gar nicht erst versucht, mich durchzusetzen. Ich dachte, ich kann das alles locker aussitzen, er wird schon irgendwann kapieren, dass ich es ernst meine. Ich hätte ihm zeigen sollen, dass er etwas tun muss und nicht herumhampeln kann, wie er will. Aber ich war so müde vom vielen Kämpfen in den letzten Wochen. Ich wollte einfach nur reiten.
    Doch dann war’s zu spät. Manchmal ist es ganz schön schwer, so ein Pferdehirn zu verstehen. Ich dachte: Mann, riecht dieses Erdbeerfeld toll und sehen die Menschen lustig aus, wie sie da auf dem Boden hocken und die Körbchen füllen. Lauter bunte Flecken. Damos aber dachte, es ist der Dritte Weltkrieg ausgebrochen, als es plötzlich donnerte und die bunten Flecken sich bewegten. Nein, er dachte es vielleicht nicht, aber er nutzte meine Nachlässigkeit und tat so, als sei es der Dritte Weltkrieg. Er stieg, machte einen heftigen Bocksprung und ging durch.
    Zeit, Panik zu bekommen, hatte ich keine. Ich wusste nur, dass ich jetzt oben bleiben muss, weil das ein Asphaltweg ist, und weil da vorne die Bundesstraße verläuft und dass ich ihn um Himmels willen vorher irgendwo ins Feld lenken muss, damit er nicht blindlings

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