Sturmsommer
wie dir lass ich mir doch nicht sagen, was ich zu tun hab«, zischt Jens Tanja an.
Jetzt ist es Marc zu viel. Tanja und er springen gleichzeitig auf und drehen sich zu Jens um, der nun mit dem Rücken zu mir steht. Ich starre auf den Bund seiner gestreiften Boxershorts, die aus seiner Hose herausblitzt. Marc geht einen Schritt nach vorne und stellt sich zwischen Tanja und Jens. Wie ein Schutzschild. Dabei ist Jans bestimmt zwei Köpfe größer als er.
Ich setze mich wieder an meinen Platz. Damit habe ich nichts mehr zu tun. »O Gott«, wispert Toni und fängt an, mir am Hemd herumzuziehen. Tanja und Marc machen nichts. Sie starren Jens nur an, aber mit Blicken, wie ich sie noch nie gesehen habe. Tanjas graue Augen lodern und ihre Wangen sind glutrot. Alles an ihr scheint in Bewegung, dabei steht sie regungslos da. Marc hingegen hat ein Gesicht, vor dem selbst ich Angst bekommen würde. So habe ich ihn noch nie gesehen. Dann packt er Jens unvermittelt zwischen die Beine und drückt fest zu. Jens fällt in sich zusammen und jault vor Schmerz auf. Damit hat niemand gerechnet. Marc ist der friedlichste Mensch, den ich kenne.
»Sag so etwas nie wieder, verstehst du? Nie wieder.« Marcs Worte sind leise, aber so drohend und eindringlich, dass mir ein Schauer über den Rücken läuft. Er dreht sich zu Tanja um, während Jens sich zu seinem Platz schleppt und mit den Tränen kämpft. »O Gott, o Gott«, flüstert Toni noch mal. Er ist bleich im Gesicht. Ich glaube sogar, er zittert.
»Alles okay?«, fragt Marc Tanja. Ich bin wie hypnotisiert, ich muss sie anschauen, obwohl ich es nicht will. Sie antwortet ihm flüsternd, sodass ich ihre Worte nicht hören kann, aber ich lese sie von ihren Lippen ab, und es ist ein schrecklicher Satz, ein Satz, den ich nie vergessen werde. »Manchmal will ich tot sein.« Hat sie das wirklich gesagt? Wie kann sie so etwas sagen? Und ist jeder, der in einem Hochhaus wohnt, automatisch asozial? Spielte Jens darauf an? Und wenn ja - woher weiß er das eigentlich? Denkt Tanja jetzt etwa, ich habe es rumerzählt?
Aber sie nimmt mich gar nicht wahr. Marc legt eine Hand auf ihre Schulter. Ich habe das Gefühl, dass sie gleich zusammensackt. Doch dann strafft sie ihren Rücken, diese typische Tanja-Geste, und setzt sich wieder an ihren Tisch. Rechnet. Die Zahlen purzeln nur so auf das Papier. Diese kleinen ordentlichen Kunstwerke.
»Wo bleibt Frau Schilfer?«, frage ich Toni, der nervös auf seinem Kaugummi herumkaut.
»Ich bin echt froh, wenn das mal rum ist, diese Phase«, raunt er mir zu.
»Welche Phase?«, frage ich.
»Na, deine. Du bist gereizt und schlecht gelaunt und eben hast du dich beinahe wieder geprügelt. Wann ist das denn endlich vorbei«, jammert er. Ich sag ja, Toni hat schwache Nerven. Schon immer war das so.
Frau Schilfer nimmt mir die Antwort ab. Sie rauscht ins Klassenzimmer und legt einen Stapel Papier auf den Tisch.
»Leute, ich mach’s kurz. Ich bin schwanger und ihr habt hitzefrei. Ich gebe euch gerade noch die Arbeiten zurück.«
»Schwanger?«, echot Toni.
»Ja.« Sie lächelt glücklich. »Nächstes Schuljahr kriegt ihr jemand anderen. Könnt euch freuen.«
»Ich freu mich nicht«, sagt Toni laut. »Ich mag Sie.« Anja muss lachen. Und ich kann nicht mehr klar denken. Was interessiert mich Frau Schilfers Familienplanung. Da vorne in dem Stapel ist meine Arbeit. Die Arbeit. Vor der ich mich so lange gefürchtet habe. Was immer jetzt auch für eine Note darauf steht - ich kann es nicht mehr ändern.
»Tom, meine Nerven - mach endlich!« Toni und ich sitzen wieder in unserem Pausenbunker. Er wedelt mir penetrant mit meiner Arbeit vor der Nase herum. Ich habe nicht draufgeguckt. Habe sie sofort klein zusammengefaltet und in die Hosentasche gesteckt. Darin hab ich ja inzwischen Übung. »Du hast ‘nen Schaden«, meinte Toni, als er mich bei dieser Aktion beobachtete, und zerrte mich gleich in unser Versteck. Eigentlich könnten wir nach Hause, aber wahrscheinlich weiß er, dass ich ihn auf dem Rad doppelt und dreifach abziehe. Er hasst Radfahren. Auf jeder Heimfahrt sagt er das mindestens zehn Mal. Vielleicht würde es ihm besser gefallen, wenn er nicht so enge Hosen tragen würde.
Mir ist dermaßen schwummrig, dass ich ihn auch nicht daran hindern konnte, mich hier reinzubugsieren.
»Guck du drauf, ich kann nicht«, bettle ich.
»Na toll, dann bin ich der Bote, der für die schlechte Nachricht bestraft wird«, meckert Toni und erzählt mir irgendeine
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