Sturmsommer
»Es steht!«, hören wir Toni noch einmal. »Kommt rein!«
Wir sind uns da nicht so sicher.
»Sollen wir?«, frage ich Marc zögernd. Sid grinst nur.
»Nun kommt schon!«, zetert Toni. Wahrscheinlich war der Zeltaufbau seine Methode, die Schmerzen zu unterdrücken. Die Seile an den Heringen, die schief und krumm im sandigen Boden stecken, vibrieren. Toni hat angefangen, im Zelt auf und ab zu springen, um uns zu beweisen, dass es nicht zu erschüttern ist. Ist es aber. Bei einem besonders hohen Sprung kommt sein Konstrukt ins Wanken - die Stange, der Stoff, alles wackelt, die Heringe flutschen aus dem Boden und Toni wird unter dem Zelt begraben, das lautlos und wie in Zeitlupe in sich zusammenstürzt.
Marc hält sich die Hand vor den Mund und schaut mit großen Augen auf den brummelnden Haufen vor uns. Ich dachte eigentlich, dass ich zu müde zum Lachen bin. Ich habe mich geirrt. Aber es tut weh. Morgen werde auch ich Muskelkater haben. Langsam schält sich Tonis Körper aus dem Zelt. Erst der hochrote Kopf, dann sein dünner Körper.
»Es ist ein Junge«, sagt Sid trocken und wir sterben fast vor lauter unterdrücktem Lachen.
»Ha-ha-ha«, macht Toni pampig und wirft Sid einen giftigen Blick zu. Ich schaue ihn mahnend an.
»Jetzt seid ihr dran«, keucht er und lässt sich auf den Boden fallen. »Ich kann jedenfalls nicht mehr.« Marc, Freddie und ich machen uns an die Arbeit. Ich habe einen Platz ganz am Rand gesucht, möglichst weit weg von den Mädchen. Ich will sie nicht sehen. Ich will nicht in ihrer Nähe sein. Und doch schaue ich dauernd zu Tanja. Warum reist sie überhaupt mit? Sie lacht nicht ein einziges Mal. Sie hat keinen Spaß dabei. Und ich glaube auch langsam nicht mehr, dass sie in mich verliebt ist. Sie weicht meinen Blicken aus. Wir haben nicht ein Wort miteinander gewechselt. Ich meine, mir ist das recht, wirklich. Aber ich frage mich, was sie hier macht. Und warum mit Meteor. Es gab genug Leihpferde, die besser drauf sind als er.
Und ständig muss ich gegen den Drang ankämpfen, zu Meteor zu gehen und mit ihm zu sprechen und ihn zu streicheln, wie ich es gewöhnt bin.
»Okay, ich glaube, so hält es«, sagt Marc und rüttelt probeweise am Innenpfosten. Ich habe still und verbissen vor mich hin gearbeitet und merke jetzt erst, dass Toni mich prüfend anschaut, als ich den letzten Hering im Boden versenke. Ich versuche zu lächeln, aber es fühlt sich an wie Zahnschmerzen.
»Essen!«, ruft Anne über den Zeltplatz. Johannes, unser anderer Betreuer, hat sich am Grill zu schaffen gemacht. Langsam weicht die Hitze einem angenehm kühlen Abend. Im trockenen Gras zirpen Grillen. Die Bergspitzen am Horizontglühen rosa. Wie heute Morgen am See. Nur bin ich jetzt so weit weg. Als wäre ich Welten entfernt.
»Mann, ist das schön«, sagt Sid auf dem Weg zum Grillplatz und bleibt kurz stehen. Ich gehe auch nicht weiter.
»Was ist mit ihr?«, fragt er und deutet mit dem Kopf zu Tanja rüber, die alleine am Ende der einen Bank sitzt und auf den Boden starrt.
»Woher soll ich das wissen?«, entgegne ich patziger als beabsichtigt.
»Na, weil du sie kennst«, lächelt Sid. »Das sieht man.«
»Ich weiß es nicht«, stottere ich verlegen. Was meint er damit - dass er das sieht? Oder dass »man« das sieht?
»Sie hat schöne Augen«, redet er weiter. »Graue Mandelaugen. Es ist ihr Pferd, der alte Braune, oder?«
Wie kommt er auf die Idee?
»Nein. Nein, das ist er nicht«, sage ich. Mir wird Sid ein bisschen unheimlich.
»Aber Damos gehört dir. Da liege ich doch richtig.«
»Ähm, ja. Ja. Das ist meiner. - Sag mal, bist du was Besonderes?«, platzt es aus mir heraus. Mir ist, als könne er Gedanken lesen.
Sid muss so sehr lachen, dass er kaum mehr sprechen kann. »Nein, um Himmels willen. Ich bin ganz normal. Ich mag nur Menschen. Und ich denke gern über Menschen nach. Hier gibt es viel zu sehen.«
Ich blicke mich um. Ich sehe nur einen Haufen müder Jungen und Mädchen, die gierig ihre Teller leer essen. Mein Magen knurrt laut.
»Okay, hab verstanden«, grinst Sid und zieht mich mit zu den anderen. Ich setze mich neben Toni, der damit beschäftigt ist, den Salat zu sortieren. Die Käsestückchen wirft er lieblos auf meinen Teller. Ich bin so etwas wie seine persönliche Abfallverwertung. Jede Schulfreizeit das gleiche Spiel. Und auch hier. Ich esse Tonis Reste.
Nach dem Essen setzen wir uns ums Lagerfeuer. In den Flammen kracht die Hitze. Die Funken tanzen in den Himmel. Johannes spielt
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