Sturmsommer
fasse an meine Stirn. Sie ist klatschnass. Ich muss hier raus, unbedingt. Ich angle mir meinen Kapuzenpullover, ziehe ihn über und schlüpfe in meine Jeans. Vorsichtig öffne ich den Reißverschluss vom Zelteingang. »Tom?«, brummt Toni. »Alles okay, gehe nur aufs Klo«, flüstere ich. Seufzend dreht er sich um und schläft sofort wieder ein. Draußen mache ich die Turnschuhe zu. Das Gras ist nass und die Luft kühl, beinahe kalt. Mein T-Shirt unter dem Pulli klebt am Rücken.
Ich versuche, ruhig und langsam zu atmen, aber noch gelingt es mir nicht. Wenn ich als Kind schlechte Träume hatte, habe ich häufig die ganze Nacht nicht mehr geschlafen - aus Angst, sie könnten wiederkehren. Eigentlich träume ich nicht oft. In den vergangenen Wochen hatte ich jedoch ständig komische Träume. Aber einen solch schrecklichen noch nicht.
Über dem schwarzen Wald hängen Nebelschwaden. Der Offenstall, an dem wir heute unser Lager aufgebaut haben, liegt da wie verlassen. Ich habe das Gefühl, ich bin der einzige Mensch hier. Es ist ein wenig unheimlich.
Als sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter legt, ist die Angst sofort wieder da. Ich mache einen Satz zur Seite und muss mich zusammenreißen, um nicht zu schreien.
»Hey, ich bin’s, Anja.« Sie steht frierend neben mir.
»Was machst du hier, verdammt?«, frage ich sie so leise wie möglich.
»Marc ist weg«, flüstert sie.
»Aber ich war doch eben noch im Zelt«, wundere ich mich. Marc ist verschwunden?
»Ich weiß«, wispert Anja. »Ich bin dir gefolgt. Du hast mich nicht gesehen. Ich hatte so ein komisches Gefühl, weil ich vorhin draußen Schritte gehört hab. Dann bin ich zu euch rüber. Sein Schlafsack ist leer!« Ich laufe die paar Meter zurück zum Zelt und luge durch den halb offenen Reißverschluss am Eingang. Tatsächlich. Marc ist nicht da.
»Weißt du, was ich denke?«, flüstert Anja. »Tanja war angeblich zwei Nächte nicht im Zelt. Marc ist nicht im Zelt. Na?« Sie sieht unglücklich aus. Und ängstlich.
»Ich glaube das nicht, nein, Marc macht so was nicht. Bestimmt nicht.« Eigentlich denke ich das auch von Marc. Er ist wie ein offenes Buch. Aber diese Nacht ist so seltsam, dass ich mir auf einmal alles vorstellen kann. Sogar, dass Marc irgendwo mit Tanja rumknutscht. Anja zittert vor Kälte.
»Du musst zurück ins Zelt. Die haben euch auf dem Kieker«, sage ich. Doch Anja ist mit ihren Gedanken woanders.
»Ich meine, verstehen kann ich ihn. Sie ist intelligent und hübsch und hat tolle lange Haare. Darauf stehen Jungs doch, oder?«, überlegt sie.
»Ich nicht«, sage ich kurz und schiebe sie Richtung Mädchenzelt. »Verschwinde wieder in deinen Schlafsack. Ich gehe ihn suchen, okay? Es wird schon alles in Ordnung sein. Er ist sicher nur auf dem Klo. Mach schon.« Anja holt sich den Tod, wenn sie noch weiter hier draußen rumsteht, und je mehr wir reden, desto größer ist die Gefahr, dass uns jemand von den Betreuern hört.
Sobald sie weg ist, bleibe ich still stehen und lausche. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Da! Da vorne am Stall hat sich was bewegt. Ich bin mir sicher. Und da sind nicht die Toiletten. Anja hat sich also nicht getäuscht. Ich schleiche mich von der anderen Seite her an. Nun kriecht auch mir die Kälte in die Knochen. Der Traum hängt immer noch schwer auf meiner Brust.
Jetzt bin ich am Stall. Ich lehne mich an die dunklen Holzplanken und versuche, so leise wie möglich zu atmen und neue Kraft zu tanken. Das Schleichen ist anstrengend. Irgendetwas krabbelt über mein Gesicht. Ich wische es fahrig weg. Neben mir taucht ein weißer Schatten auf. Damos.
»Gaaanz ruhig«, hauche ich. Er scheint es zu verstehen und äugt mich nur an, ohne zu schnauben oder zu wiehern. Ich lege ihm beruhigend die Hand auf den Hals und gehe weiter, Schritt für Schritt.
Nach ein paar Metern habe ich keinen Zweifel mehr - hier muss ein Mensch sein. Marc? Was zum Teufel tut er hier? Soll ich ihn rufen? Aber dann können mich auch die anderen hören. Plötzlich stößt mein Fuß gegen etwas Warmes, Schweres. Ich zucke zusammen und drücke mich sofort in die dunkelste Ecke hinter den Schubkarren mit dem Mist. Was liegt da auf dem Boden? Es schnauft leise und ich höre noch ein Geräusch, auch eine Art Schnauben, nur leiser, feiner, menschlicher. Fast ein Schluchzen. Träume ich etwa immer noch?
Die Wolken geben einen milchigen Mond frei. Sein Licht fällt durch die offene Seite in den Stall und auf das aufgeschichtete
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