Sturmsommer
ruft Anne, die uns anführt. Wir haben die Kuppe einer Wiese erreicht. Vor uns nur sanft ansteigendes Feld. Gemähtes Feld. Sid und ich werfen uns einen Blick zu.
»Lust auf einen Galopp? Seid ihr bereit?« Sie muss die Antwort nicht abwarten. Ich bewege Damos fast aus dem Stehen in den Galopp und sofort ist Siglavi mit Sid auf meiner Höhe.
Der Wind treibt mir die Tränen in die Augen und rauscht in meinen Ohren. Ich fühle Damos’ geballte Kraft in jeder Muskelfaser. Unter seinen Hufen flitzen die Feldstoppeln vorbei und ich habe das Gefühl zu fliegen, abzuheben, schwerelos zu sein. Ich spüre seine Energie tief in meinem Bauch, jeder Galoppsprung scheint mich leichter zu machen. Ich schmiege meine Beine fest um ihn, ich möchte eins werden mit ihm und ich möchte vergessen, so vieles vergessen …
»Alles okay?«, brüllt Sid gegen den Wind an. »Ja«, schreie ich zurück. Wir schauen uns an und nicken. Also noch schneller.
Ich beginne mit Damos zu sprechen, denn mehr Druck kann ich nicht mehr aufbringen. Die Zügel lasse ich ganz locker. »Na, lauf, mein Großer, lauf …« Ich schnalze mit der Zunge. Tatsächlich, er hat noch Kraft, scheint sogar mit jedem Sprung mehr Kraft zu bekommen. Hals an Hals fliegen Siglavi und Damos den Bergen entgegen. In solchen Momenten möchte ich mich manchmal teilen, damit ich ihn sehen kann, ihn und mich, uns beide.
Ich drehe kurz meinen Kopf. Die anderen sind außer Sichtweite. Ich pariere Damos in den Trab, zeitgleich mit Sid.
»Boah«, sagt er und wirft lachend den Kopf in den Nacken. »Hammer.« Mir geht es nicht anders. Für diesen kurzen Ritt hat sich alles gelohnt. Das Lernen, die Angst vor der Arbeit, die langen Stunden mit Tanja.
Jetzt kommen die anderen nach. Anne wirft uns kopfschüttelnd einen bemüht ernsten Blick zu. Aber ich sehe das Lächeln in ihren Augen.
»War das Absicht oder sind die mit euch durchgegangen?«
»Absicht«, antworten wir gleichzeitig. Mein Gesicht tut fast schon weh vom vielen Strahlen. Ich kann gar nichts dagegen tun. Auch die anderen sehen allesamt glücklich aus.
»Wenn ihr erwachsen seid, werdet ihr vielleicht irgendwann begreifen, was für einen elend gefährlichen Sport ihr euch da ausgesucht habt.« Sie zwinkert uns zu. »Beim nächsten Mal wartet ihr auf uns, okay?«
»Okay«, sage ich gespielt zerknirscht. Ich bin froh, dass die Welt gerade in Ordnung ist. Wenigstens für einen kurzen Moment.
Als ich die Augen öffne, finde ich mich in einer Wüste wieder. Weit und breit nur Sand, roter Sand und Tiergerippe, knochige Schädel mit riesigen pechschwarzen Augenhöhlen. Der Boden glüht unter meinen Füßen. Die Sonne hängt tief und brennt sengend auf meinen Nacken. Ich kann kaum etwas sehen, alles flimmert. Es macht mich fast blind. Meine Schläfen hämmern und meine Kehle ist ausgetrocknet. Zwischen den Zähnen knirscht der Sand.
Am Horizont bewegt sich etwas. Ich kneife meine Augen zusammen, um es zu erkennen, doch noch immer ist alles verschwommen. Ich versuche, mit aller Macht zu sehen, was es ist. Unter äußerster Anstrengung erkenne ich eine schmale Gestalt, die in der Hitze flirrt wie eine Fata Morgana. Sie kommt näher und näher. Nun kann ich ihr Gesicht sehen. Es ist Tanja. Ihr rotes Haar flattert im heißen Wind. Hinter ihr schleift etwas auf dem Boden, mit einem kalten knirschenden Geräusch - schon wieder ein Tiergerippe. Die Knochen schlagen im Takt ihrer Schritte aufeinander. Wenige Meter von mir entfernt bleibt sie stehen und hebt ihren Blick. Ihre großen grauen Augen blicken mich direkt an. Ihr Gesicht ist kalkweiß. Leise dringt ihre flehende Stimme durch das Pfeifen des Windes. »Tom … du musst mir helfen … Hilf mir… Hilf mir doch … Bitte!« Ich möchte zu ihr und ich will auch weg von ihr, beides gleichzeitig, aber es geht nicht, ich kann mich nicht bewegen. Ich schaue nach unten und sehe, dass sich die Tierknochen um meine Beine geschlungen haben und mich in den glühenden Sand hinabziehen. »Hilf mir, bitte!«, höre ich noch mal Tanjas Stimme. Der Sand verbrennt mich, ich spüre es genau, es schmerzt, ich will schreien, aber mein Mund ist zu trocken. Ich kann nicht schreien, nicht einen Ton … ich verbrenne …
Ich wache von meinem eigenen Keuchen auf. Ich sitze aufrecht auf meiner Luftmatratze und bin schweißgebadet. Mein Herz rast. Toni murmelt im Schlaf. Die ersten Traumbilder verschwinden schon. Was bleibt, ist Tanjas Rufen. Ich habe es immer noch in meinem Ohr. Mir ist so heiß. Ich
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