Sturmsommer
nachdenken muss. Ich will es ihm erzählen, wenn alles vorbei ist. Wenn er dann noch mit mir spricht. Irgendwo weiß ich, dass er nur wegen mir mitgefahren ist, obwohl er das nie gesagt hat. Aber er findet Zelten eigentlich abscheulich; er sieht es nicht ein, in der heutigen Zeit auf dem Boden zu schlafen und auf Plumpsklos oder in den Wald zu gehen. Und er wird auch nie ein begeisterter Reiter sein.
Oje, wenn alles rum ist, werde ich einiges gutzumachen haben. Ich kann das Bremsengel in meinem Rucksack nicht finden. Wahrscheinlich ist es in meiner großen Tasche im Planwagen. Ich krieche wieder aus dem drückend heißen Zelt und laufe rüber zum Betreuerwagen, der sich wie jeden Tag nahe beim Stall befindet.
Anne steht davor und läuft mit gerunzelter Stirne auf und ab, als würde sie auf jemanden warten. Seltsamerweise wurde beim Frühstück kein Wort davon gesagt, dass das Handy entwendet wurde. Ach, was heißt entwendet. Geklaut. Ich habe es ihnen geklaut.
»Hallo«, sagt sie freundlich und lächelt mich an. Aber das Lächeln ist verkrampft, ich kann das sehen. Das Handy wiegt zentnerschwer in meiner Jacke.
»Hi«, grüße ich zurück und gehe an den Eingang des Wagens. Johannes sitzt hinten auf dem Schlaflager und repariert ein zerrissenes Halfter.
»Ich muss nur was aus meiner Tasche holen«, sage ich.
»Klar, kein Thema, jederzeit«, grinst er zu mir rüber. Kein Thema. Wenn du wüsstest. Mein schlechtes Gewissen erdrückt mich fast - und ebenso die leise Hoffnung, ich hätte das Handy bei dieser Gelegenheit reinschmuggeln können. Keine Chance. Er sitzt genau da, wo ich heute Nacht herumgeschlichen bin. Aber offensichtlich hat mich niemand im Verdacht.
Meine Tasche hängt ganz unten in dem bunten Haufen drin. Ich zerre sie heraus und durchwühle sie eilig. Keine Sekunde länger als nötig will ich hier im Wagen bleiben. Da, ich habe das Gel gefunden. Ich stecke es in meine Hosentasche und will gerade zur Weide flitzen, Hauptsache weg von Johannes und Anne, als ich Tanjas Stimme höre. Müde, aber klar und deutlich.
»Noch einmal: Ich war es nicht. Wie oft soll ich das noch sagen?«
Ich linse um die Ecke. Anne und Tanja stehen sich gegenüber. Tanja hat die Arme verschränkt und blickt Anne mit einer Mischung aus Erschöpfung, Angst und Zorn an.
»Tanja«, sagt Anne in diesem strengen Ton, den ich weder an ihr noch an anderen Menschen mag. Ein Lehrer-Ton. »Du bist diejenige, die zahlreiche Nächte nicht in ihrem Zelt war. Wir wissen das. Wir wissen nur noch nicht, wo du dich rumtreibst.«
»Rumtreibst?«, fragt Tanja empört. Ihre Augen flackern. Ich kenne diesen Blick genau, nur habe ich sie dabei noch nie so leblos gesehen. Ihr Körper wirkt wie eine Statue. Verkrampft und starr.
Anne seufzt genervt, als habe sie es mit einem kleinen Kind zu tun.
»Was auch immer. Du bist nicht im Zelt. Und jetzt ist das Handy weg.«
»Und?«
»Du machst es mir aber auch wirklich nicht leicht«, klagt Anne. Doch ihre Stimme bleibt autoritär und barsch. Wie sagte Freddie? Dominant, aber nett. Etwas Nettes kann ich an ihr im Moment nicht mehr finden. Als ich genauer hinschaue, sehe ich, dass Tanjas Hände leicht zu zittern beginnen. Was hab ich hier nur wieder angerichtet. Jetzt wird sie verdächtigt, das Handy gestohlen zu haben. Warum denn das? Nur, weil sie nachts nicht im Zelt war? Macht das einen schon zum Dieb? Warum verdächtigen sie Marc nicht? Oder Anja?
»Tanja, wir wissen, dass du Zuschüsse vom Freundeskreis eures Reitervereins für diese Fahrt bekommen hast.«
»Ja, das habe ich - und?«, entgegnet Tanja. »Es war nur ein Zuschuss. Der genau für solche Sachen gedacht ist. Den Rest habe ich mir selbst verdient. Mit diesen Händen!« Sie streckt ihre blassen Arme nach vorne. Sie ist so dünn geworden.
»Wie dem auch sei. Du kommst aus einem sozial schwachen Zuhause.«
»Einkommensschwach«, verbessert Tanja mit schneidender Stimme. »Ich denke, das ist ein gewaltiger Unterschied.«
»Jedenfalls sehe ich Folgendes: Da ist ein Mädchen, das kein Geld hat, immer abseits sitzt, sich hier nicht wohlfühlt, kein eigenes Pferd hat und wahrscheinlich auch kein Handy.«
»Richtig. Ich hatte kein Handy und ich habe immer noch keins. Und ich will auch keins haben. Ich brauche kein Handy.« Tanjas Hände zittern nun stärker. Sie vergräbt sie tief in ihren Hosentaschen.
»Tanja«, seufzt Anne. »Mach es uns doch bitte nicht so schwer. Gib es mir einfach zurück, okay? Dann drücke ich noch mal ein Auge
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