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Sturmsommer

Sturmsommer

Titel: Sturmsommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Fehler, nach unten zu sehen. Ich blicke ins Nichts. In einen gähnenden Abgrund. Dabei soll der noch harmlos sein im Vergleich zu der Schlucht, auf die Tanja zureitet.
    Ich reiße Damos verzweifelt mit der Mähne nach vorne. Hart schlagen seine Hufe auf der anderen Seite auf und kommen ins Rutschen. Ich mache mich so leicht wie möglich und ziehe noch mal an seinen Haaren, die mir tief in die Handflächen schneiden. Mit einem weiteren Sprung versucht er, dem rutschenden Geröll zu entkommen. Ich sehe kurz Lissis Gesicht vor mir, ihr Lächeln, dann Mama und ihre ängstlichen Augen. Die blauen Tücher, die sie immer malt. Ich will nach Hause.
    Noch einmal schlage ich meine Fersen in seine Flanken. Der nächste Sprung rettet uns. Ich stürze über seinen Kopf hinaus auf den Boden und pralle mit den Ellenbogen auf den Stein. Er darf mir jetzt nicht abhauen. Mit der anderen Hand greife ich nach seiner Mähne. Er steht. Er steht tatsächlich. Jedes andere Pferd würde nun fliehen, aber mein Damos bleibt bei mir. Obwohl mir alles wehtut und ich nicht weiß, ob mein Arm gebrochen ist, schwinge ich mich wieder auf seinen Rücken.
    »Lauf! Lauf, so schnell du kannst!« Jetzt erst habe ich wieder einen Augenblick Zeit nach vorne zu sehen. Zu Meteor und Tanja. Um Gottes willen, was hat sie nur vor? Das kann sie doch nicht tun, nein, das kann sie einfach nicht! Das darf sie nicht!
    Damos fliegt über den harten Boden. Ich glaube sogar, seine Hufe splittern zu hören. Doch er hat begriffen, um was es geht. Er hat Meteor erkannt. Seine Nüstern beben und sind weit offen. Seine Müdigkeit ist verflogen, er läuft von alleine, ohne, dass ich etwas tun muss. Wie weit ist Tanja von der Schlucht entfernt? 500 Meter? Weniger? Und wenn ich sie nicht einhole? Wenn ich es nicht schaffe, was muss ich dann sehen? Was muss ich dann mein Leben lang vor Augen haben?
    »Tanja! Nein! Nein!«, brülle ich gegen den Wind. Meine Lunge tut mir weh und ich kann meinen Arm kaum mehr bewegen. Schlaff hängt er an mir herunter, nur noch mit der rechten Hand kralle ich mich in der Mähne fest. Meteor wird wieder langsamer, obwohl Tanja ihre Fersen fest in seine Flanken gräbt. Ihr Gesicht ist verzerrt, als sie sich umdreht und mich erkennt. 0 Gott, ich kann schon den Abgrund sehen, wir sind fast da … Wir werden alle umkommen …
    Ich habe keine Kraft mehr in den Beinen, um Damos anzutreiben, doch er bäumt sich noch einmal auf, jetzt bin ich fast neben ihr, nur noch ein paar Meter. Wie halte ich sie auf? Blitzartig schießt mir die Szene aus dem Erdbeerfeld durch den Kopf. Und auch Damos scheint es zu verstehen. Er galoppiert an ihr und dem bockenden Meteor vorbei und ich lasse mich hinuntergleiten. Hoffentlich wendet er rechtzeitig ab, o bitte Damos, bitte. Doch ich kann jetzt nicht nach hinten schauen. Schwankend komme ich zum Stehen.
    Mit aller Kraft versuche ich, beide Arme zur Seite auszustrecken und heule auf vor Schmerz. Doch es gelingt mir. Ich spüre Meteors heißen Atem vor meinem Gesicht, als er steigt und seine mächtigen Hufe nur wenige Zentimeter vor meinen Augen in die Luft treten. Sein schrilles Wiehern vermischt sich mit Tanjas Schreien. Sie stürzt sich vom Pferd auf mich herunter und bringt mich zu Fall.
    »Nein, das nimmst du mir nicht auch noch, lass mir wenigstens das!«, brüllt sie und schlägt mir mit den Fäusten auf die Brust. »Lass mir wenigstens das hier!« Ich versuche ihre Arme zu greifen, doch ich kann meine linke Hand nun nicht mehr heben. Mir wird kurz schwarz vor Augen, dann bin ich wieder da und blicke in ihr Gesicht. Es ist so voller Wut, Angst und Trauer, dass es mir wehtut, sie anzusehen. Ihre Schläge werden kraftloser, doch ihre Knie drücken sich immer noch schmerzhaft zwischen meine Rippen.
    »Verdammt, er wird nicht sterben, ich habe ihn gekauft, du blöde Kuh«, schreie ich mit letzter Kraft. Tanja hält inne. Über uns zuckt ein Blitz. Jetzt ist sie direkt über uns, die schwarze Wolkenwand.
    »Was hast du …?«
    Ich schiebe sie vorsichtig von mir runter. Meteor steht schweißüberströmt hinter ihr und atmet heftig. Damos lehnt sich an ihn. Seine Muskeln und Sehnen zucken unter dem nassen Fell. Ich blicke hinter mich. Noch ein paar Meter und wir wären alle in den Tod gestürzt.
    »Und was hast du dir dabei gedacht, hm? Du denkst also, du kannst dich einfach umbringen und ein anderes Lebewesen dazu?«, herrsche ich sie an. Doch ihr Blick lässt meine Stimme weicher werden, bevor ich zu Ende geredet

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