Sturmwarnung
Deutschen im Jahr 1940 hatte man in Frankreich keine Flüchtlinge mehr auf
den Straßen gesehen. Am Anfang waren Deutsche, Polen und Tschechen gekommen,
danach Dänen, Belgier und ein versprengtes Häuflein Norweger und Schweden.
Keine Finnen. Keine Letten, Esten oder Russen.
Sie kamen in Scharen,
dicht gedrängt auf Lastern, in Limousinen und Kleinwagen, in Zügen und
Flugzeugen. Frankreich war in keiner Weise auf Ströme von einer halben, bald
einer Million und noch mehr Flüchtlingen pro Tag eingestellt, die die
zugeschneiten Autobahnen verstopften, die Nebenstraßen überschwemmten, um am Ende
zu Fuß über Felder und vereiste Flüsse zu laufen und allerorts zu kaufen,
betteln und plündern.
Die
französische Regierung war hoffnungslos überfordert. In ihrer Verzweiflung
brach sie die europäische Verfassung und versuchte, die Grenzen dichtzumachen.
Doch die
Soldaten waren nicht für Grenzüberwachung ausgebildet. Abgesehen davon scherte
sich der Blizzard ohnehin nicht um Gesetze, sodass der nördliche Teil des
Landes schnell lahm gelegt wurde.
In einer
Hinsicht bedeutete das eine Erleichterung für die Regierung, denn die
Flüchtlingsströme versiegten allmählich. Das Einzige, was jetzt noch von ihnen
zu sehen war, waren lange Wellen im Schnee – unter denen die unzähligen
Fahrzeuge in den verstopften Straßen liegen geblieben waren. Die Zahl der Toten
dort draußen kannte niemand. Aber es waren viele. Sehr viele.
Im Norden
Europas hatte das Desaster unvorstellbare Ausmaße angenommen. Schweden lag
unter einer zwei Meter dicken Schneedecke begraben. Und es schneite noch immer
in dicken Flocken, beinahe zehn Zentimeter pro Stunde. Die Temperatur lag bei
minus 50 Grad, der Wind fegte mit 180 Stundenkilometern über das Land. Es gab
auch Überlebende, in den großen Städten und auf Bauernhöfen, die mit einem
eigenen Generator ausgestattet waren. Wahre Magneten waren nun auf einmal die
Atomkraftwerke. Ohne sich um die Vorschriften zu kümmern, durchbrachen die
Leute die Zäune und drängten sich im warmen Inneren der Anlagen, bis das
Stromnetz zusammenbrach und keine Energie mehr floss.
Der Sturm
zog blind und unbarmherzig weiter. Von den Geschehnissen in Skandinavien
gewarnt, beschloss die französische Regierung, Paris gegen den Sturm zu
verteidigen. Angesichts der Bedrohung sah man keine andere Möglichkeit.
Aus dem ganzen Land wurden
in aller Eile Räumgeräte in die Hauptstadt geschafft. Die meisten kamen aus den
Alpen. Und kaum zogen die Pflüge Schneisen durch den Schnee, strömten lange
Reihen von Flüchtlingen hinterher.
Allerdings
folgten diese Leute den Schneeräumern nicht den ganzen Weg bis Paris.
Stattdessen zog es sie in den Süden, und bald wimmelte es in den Städten an der
Côte d’Azur wie sonst nur im August.
So diskret
sie es nur vermochte, verlegte die Regierung die wichtigsten Abteilungen nach
Marseille, doch viele Institutionen mussten in Paris bleiben.
Und Paris
zog in einen Krieg. Es war der Mut der Verzweiflung, Trotz gegen etwas, das so
entsetzlich war, dass man es gar nicht fassen, geschweige denn sinnvoll
bekämpfen konnte. Gleichwohl setzte die Stadt alles daran, sich zu retten.
Der Sturm,
der nur per Satellit als strukturiertes, einheitliches Ganzes erfasst werden
konnte, schien am Boden aus einer endlosen Serie von Einzelblizzards – einer
schlimmer als der andere – zu bestehen. Ungebremst rasten sie über das Land,
bis sie sich in einem grässlichen Gewitter entluden und buchstäblich selbst
zerfetzten oder gegen ein Gebirge prallten.
Als die
Spitzen ihrer Wolken weit genug in die Höhe ragten, setzte eine grausame
Kaltluftzirkulation mit ultrahohen Winden ein, die alles, was unter ihr lag,
verwüstete. Trafen solche Zellen Städte, wie das in Edinburgh und Sankt
Petersburg geschah, blieb kein Stein auf dem anderen.
Schnee fiel über ganz
Frankreich. Selbst die Atlantikhäfen froren zu, weil die warmen Strömungen, die
das Klima bisher gemildert hatten, von der neuen kalten Zirkulation aufgesogen
worden waren. Orte wie Biarritz, in denen sonst das ganze Jahr über angenehme
Temperaturen herrschten, waren mit einem Schlag der Wut des Atlantiks
ausgesetzt.
Paris
wehrte sich, Paris kämpfte. Oberirdische Stromleitungen und Kraftwerke wurden
mit Dutzenden von Arbeitern bemannt, jeder mit einem ölbetriebenen Heizstrahler
bewaffnet. Einheiten von Technikern hielten sich bereit, zu jedem Ort zu eilen,
an dem die Stromzufuhr unterbrochen war. Eines stand für alle
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