Sturmwelten 01
Gefühllosigkeit des Leutnants, sondern dass sie seinen Standpunkt verstehen konnte. Es wäre ein einfacher Weg, um zumindest diese Probleme zu beenden. Ein Weg, der ihnen als Offiziere offenstand und für den sie sich nicht zu rechtfertigen bräuchten. Niemand würde Beweise verlangen, wenn die Offiziere des Schiffs Anklage gegen einen Matrosen erhoben. Es würden keine Untersuchungen angestellt werden. Und wenn erst einmal jemand wegen Mordes von der Rah gebaumelt hatte, würde Hoare es sicher schwerer finden, noch Leute zu finden, die seinen aufrührerischen Reden zuhörten. Der Gedanke war in der Tat verlockend.
Nein! Wir werden nicht andere für unsere Taten leiden lassen! Ich werde das verhindern. Doch trotz ihrer Entschlossenheit blieb Roxane ein schaler Geschmack auf der Zunge zurück; eine Scham über ihre eigenen Gedanken, derer sie sich nicht entledigen konnte.
Das Aufgebot an Soldaten stand in voller Uniform und mit geladenen Musketen auf dem Achterdeck bei den Offizieren. Roxane ließ ihren Blick über die Zweierreihen wandern, bis sie Cudden erreichte, der ungerührt auf das Mitteldeck hinabsah. Unten hatte sich die Mannschaft versammelt, alle Seeleute der Mantikor , ohne Ausnahme. Jeder trug seine beste Kleidung, und auch das Schiff war bis in die hinterste Ecke geschrubbt und herausgeputzt worden. Wieder blickte die junge Offizierin zu den Soldaten. In voller Montur und kampfbereit zu einer Bestattung. Was für einen Abgang Harfell doch bekommt. Er geht, wie er gelebt hat.
In der Mitte der kleinen Versammlung stand Sellisher. Der Caserdote wirkte niedergeschlagen, seine Schultern hingen herab, sein Gesicht war aufgedunsen. Er war es gewesen, der Harfells Tod bemerkt hatte, als er wieder einmal neben der Koje des Kapitäns gebetet hatte. Der Verlust des Freundes traf ihn tief, so viel war augenscheinlich.
Nervös wechselte Roxane das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Die Schuhe ihrer Galauniform waren nicht eingetragen, und die Schnallen drückten. Doch das war weit weniger unangenehm als die Blicke, die ihr von einem Teil der Mannschaft zugeworfen wurden. Sie stand an der Reling, den Rücken durchgedrückt, und hielt die Planke empor, auf der Harfells Leichnam in Segeltuch eingenäht lag.
Sie hatten die Flagge Thaynrics über ihm ausgebreitet, doch beinahe glaubte die junge Offizierin, seinen stechenden Blick durch die Stoffe hindurch zu spüren. Aella und Cearl standen ihr gegenüber, während Groferton neben ihr stand. Der Maestre schwitzte und versuchte die ganze Zeit, möglichst leise und unbemerkt zu schniefen. Die beiden Leutnants starrten über Roxanes Kopf hinweg, als gäbe es in der Takelage der Fregatte ein Wunder zu beobachten. Ihre Gesichter trugen jene feierliche Miene zur Schau, die man bei solchen Gelegenheiten aufsetzte, doch Roxane wusste, dass sie im Innersten ebenso aufgewühlt waren wie sie selbst.
Die Worte des Caserdote dröhnten an ihr Ohr, aber sie konnte der Trauerpredigt nicht folgen. Er sprach von der Ehre und vom Mut des Toten. Roxane indes sah nur den dürren alten Mann vor sich, wie er am Fuße des Niedergangs in seinem Nachthemd gelegen hatte, während sein dunkles Blut sich langsam um ihn ausbreitete. Sie wollte nichts von den Verdiensten Harfells hören, von seinen wagemutigen Angriffen, seinem taktischen Geschick, seinen legendären Siegen, seiner Opferbereitschaft für die Belange ihrer Nation. Sie konnte dieses Bild nicht mit dem Menschen in Einklang bringen, der ihr Leben auf der Mantikor zu einer wahren Hölle gemacht hatte.
»… und er gab sein Leben in Ausübung seiner Pflicht …«
»Er wurde ermordet!«, schrie eine Stimme aus den Reihen der Mannschaft. Sofort spannten sich Roxanes Muskeln an, und sie erwartete jeden Augenblick den Ausbruch von Gewalt. Sie ahnte, wer gerufen hatte, doch feststellen konnte sie es nicht. Der Moment ging vorbei, und Cudden brüllte lediglich: »Ruhe im Glied!«
»Er gab sein Leben in Ausübung seiner Pflicht«, wiederholte Sellisher mit fester Stimme. Die junge Offizierin musste dem Caserdote zugutehalten, dass er trotz seiner Verfassung eine ordentliche Totenmesse hielt. »An Bord seines Schiffes, wie er es sicherlich gewünscht hätte. Wir übergeben seinen Leib nun den Armen der See, die schon so viele stolze Söhne und Töchter unserer unbeugsamen Nation empfangen hat. Mögen sie Kapitän Oric Harfell in ihrer Mitte willkommen heißen, und möge die Einheit über ihren Sohn wachen. Wir Zurückgebliebenen
Weitere Kostenlose Bücher