Sturmwelten 01
durch seine Kleidung und in seinen Rücken. Gerade weit genug, um Blut fließen zu lassen. Sie zerrten ihn hinaus, und er konnte nicht einmal mehr einen Blick auf Pertiz erhaschen. Auch Sinosh blieb verschwunden, und so musste Jaquento seinem Schicksal vollkommen auf sich allein gestellt ins Auge sehen.
ROXANE
Dicke Nebelschwaden hingen über dem Wasser. Hinter ihnen lag Brebant im Schatten der dunklen Wolken, die sich um die Insel zu versammeln schienen. Vor ihnen schob sich ein bleigraues Band vor den Horizont. Die Ränder der Wolken wurden von der aufgehenden Sonne silbern gefärbt, während goldene Strahlen das Meer in ein unwirkliches Licht tauchten. Ein Loch in der Wolkenformation erschien wie ein Tor zu einer lichtdurchfluteten, anderen Welt, zu einem besseren Ort, der jenseits von Mühsal und Zweifel lag.
Doch die Wolken wurden vom Wind getrieben, und das Loch schloss sich unweigerlich, nahm das Licht mit sich und ließ nur einen grauen Himmel zurück. Es gibt einen Ausweg, dachte Roxane, die auf dem Achterdeck der Mantikor auf und ab ging, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Einen goldenen Pfad, der uns alle aus dieser Misere führt. Es gibt einen Ausweg; es muss einen Ausweg geben! Warum nur kann ich ihn nicht finden? Ihr Gemüt war so finster wie der Horizont, auf den die Fregatte zufuhr. Sorgen hingen wie Wolken in ihrem Geist, verdeckten jegliches Licht der Hoffnung. Wir fahren in die Katastrophe.
»Schon bald wird die Mannschaft etwas zu tun bekommen«, erklärte Cearl, als sie auf ihrem endlosen Parcours wieder einmal an ihm vorbeikam. »Sind Sie auch unruhig, Leutnant?«
»Ich muss gestehen, dass ich die Entwicklungen mit Sorge betrachte, ja«, erwiderte Roxane steif. Seit den Gesprächen mit den vorgeblichen Händlern war der Erste Offizier wieder offener geworden, als habe sich in ihm ein Knoten gelöst. Sie hingegen fühlte sich, als ob ein Schatten über ihnen allen hinge, ein drohendes Unheil, in das sie offenen Auges segelten. Das Gefühl war unbestimmt, aber deutlich. Es gelang ihr einfach nicht, es in Worte zu fassen, die über düster orakelnde Warnungen hinausgingen.
Die Vermutung, dass Jaquento irgendeinen Plan verfolgte, lag nahe, auch wenn sie schlichtweg nicht wusste, was der Mann vorhatte. Einerseits war es zu unwahrscheinlich, dass sie sich zufällig getroffen hatten, andererseits war der Gedanke, dass er sie erst in Lessan und nun in Brebant gezielt abgepasst hatte, ebenfalls abwegig.
Während sie ihren ruhelosen Gang über das Achterdeck wieder aufnahm, kreisten die Gedanken endlos in ihrem Kopf.
Die Wolken verdeckten die Sonne, und in einiger Entfernung konnte man den trüben Schleier eines Regengusses sehen, in den sie wohl bald hineingeraten würden.
In diesem Moment kam Groferton den Niedergang empor. Die Miene des Maestre war noch sauertöpfischer als sonst, und er ging direkt zu Cearl. Man sah dem kleinen Mann an, dass er von seinen Wachen an Harfells Krankenlager erschöpft war. Der Schiffsmagier flüsterte einige Worte. Obwohl das Antlitz des Ersten Offiziers ungerührt blieb, bemerkte Roxane, wie er sich anspannte, als ginge ein Ruck durch seinen Leib. Verwirrt blieb sie stehen, bis Cearl sie zu ihnen herüberwinkte.
»Der Kapitän ist soeben verstorben«, erklärte Groferton ohne Umstände. »Tabard hat seinen Tod bestätigt.«
Einige Sekunden lang schwiegen sie alle. In Cearls Blick konnte Roxane die Verzweiflung lesen, die er die letzten Stunden unterdrückt hatte. Nun war er Meuterer und Mörder in einem, wenn auch vielleicht nur vor seinem eigenen Gewissen.
Eigentlich fand sie, dass ihr die Worte fehlen sollten, doch jetzt galt es, rasch und geistesgegenwärtig zu handeln, und so nickte sie knapp: »Ich habe es beinahe erwartet. Wir müssen uns um die Bestattung kümmern und die Mannschaft informieren. Vor allem die Offiziere sollten es erfahren. Soll ich Leutnant Cudden benachrichtigen?«
»Was? Oh, ja, tun Sie das, Leutnant«, murmelte Cearl.
»Und Caserdote Sellisher muss eine Totenmesse vorbereiten. Je eher, desto besser«, erklärte die junge Offizierin. Mit einem Blick auf Groferton fuhr sie fort: »Damit die Mannschaft den Kopf für die anstehenden Kämpfe frei hat.«
Und damit Cearl möglichst bald von der Bürde befreit wird. Er sieht ja aus, als hätte er einen Geist gesehen. Vielleicht hat er das tatsächlich.
»Ich informiere den Caserdote«, stimmte der Maestre ihr zu. Einen Moment schien es, als wolle er noch etwas sagen, dann
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