Sturmwelten 01
nur wenig zu tun. Die Männer und Frauen der Mantikor dienten schon lange gemeinsam auf dem Schiff; für Roxanes geübtes Auge war das, was auf einen Landmenschen wie ein kaum überschaubares Chaos wirken musste, ein perfekt orchestrierter Ablauf, eine geölte Maschine, in der jedes Teilchen seinen Platz und seine Bestimmung hatte. Hin und wieder korrigierte sie leicht den Kurs, wenn der Wind die Fregatte zu weit abgetrieben hatte, aber ansonsten schritt sie lediglich über das Deck und hatte ein Auge darauf, dass alles den gewohnten Gang ging.
Inzwischen war sie in diesen Momenten ruhiger. Sie hatte sich an die Last der Verantwortung auf ihren Schultern gewöhnt, auch wenn sie den Druck immer noch spürte. Ist es bei Kapitän Harfell ebenso? , fragte sie sich insgeheim. Oder verschwindet die Angst vor dem eigenen Versagen mit der Zeit? Stellt er seine Entscheidungen stets infrage, oder denkt man nicht mehr so, wenn man die Verantwortung schon so lange trägt?
Als hätte jemand ihre Gedanken gelesen, kam Fähnrich Tola den Niedergang hinaufgestürmt und salutierte vor Roxane, die den Gruß ruhig erwiderte.
»Der Kapitän wünscht alle Offiziere in seiner Kajüte zu sehen, Thay.«
»Jetzt?«, erwiderte Roxane verdutzt.
»Ja, Thay. Ich habe so lange das Kommando an Deck.«
Roxane zwang sich zu einem ermunternden Lächeln und nickte, bevor sie erneut salutierte: »Aye, aye, Fähnrich. Hiermit übergebe ich Ihnen das Kommando. Wind konstant aus Nord-Ost. Kurs wird gehalten.«
Das blonde Mädchen schluckte nervös und sah sich hastig um. Roxane versuchte ihr Alter zu schätzen, doch sie war darin nie sehr gut gewesen. Dreizehn oder vierzehn Jahre vielleicht. Jünger als ich, als ich zum ersten Mal meinen Seesack gepackt habe.
»Keine Sorge: Sie läuft stabil«, flüsterte die junge Offizierin noch und zwinkerte dem Mädchen zu, als sie an Tola vorbeiging und hinab in das Zwielicht des Niedergangs stieg.
Zu ihrer Überraschung waren bereits alle Offiziere versammelt, inklusive Caserdote Sellisher und Maestre Groferton. Bedächtig salutierte sie und reihte sich in die Riege der Leutnants ein, die um den Tisch des Kapitäns versammelt waren.
»Dann sind wir vollständig«, begann Harfell die Besprechung. »Machen wir es kurz, damit Leutnant Hedyn wieder auf ihren Posten zurückkehren kann.«
Mit einem ungeduldigen Tappen wies der Kapitän auf seine Karte. Roxane musste sich etwas vorbeugen, um die kleine Inselgruppe um Lessan zu erkennen, die in den letzten Jahrzehnten zur wichtigsten Basis der Marine in der Sturmwelt ausgebaut worden war. Dort versammelten sich regelmäßig Handelsschiffe zu großen Konvois, die von ganzen Geschwadern zurück nach Thaynric eskortiert wurden. Jeder dieser Konvois führte unermessliche Schätze mit sich, vor allem aber lieferten sie dringend benötigte Rohstoffe. Die junge Offizierin versuchte sich die exotischen Handelswaren vorzustellen, die ihren Weg in die Heimat fanden, doch Harfell unterbrach ihre Gedanken: »Das ist, wie Sie bereits wissen, unser Ziel. Wir werden der Sturmwelt-Flotte unterstellt, die unter Admiral Holts Flagge fährt.«
Roxane konnte sehen, wie sich in den Gesichtern der anderen Offiziere Enttäuschung abzeichnete. Konvois bedeuteten viel Arbeit, wenig Ruhm und noch weniger Hoffnung auf fette Prisen. Ihr selbst lag der Gedanke an Prisengeld gerade fern; vielmehr beschäftigte sie die Vorfreude auf die Sturmwelt, jene unzähligen Inseln, deren exotische Landschaften und Bewohner immer wieder in Zeitungen, Liedern und Gedichten beschrieben wurden. Sie brannte darauf, all diese Wunder mit eigenen Augen zu sehen.
»Gibt es Nachricht von der Admiralität?«, wandte sich der Kapitän an den Maestre, der geistesabwesend auf die Karte blickte.
»Was? Äh, nein … Thay. Ich bezweifle allerdings, dass irgendwer sich die Mühe machen würde, einer Fregatte Nachrichten zu senden. Wissen Sie, wie viel Aufwand und Kraft dafür benötigt wird? Ein halbes Dutzend der besten …«
»Ja, ja, schon gut. Melden Sie mir einfach, wenn es etwas Neues gibt. Haben Sie sonst noch etwas zu berichten, Groferton?«
Falls der Maestre die gezielte Unhöflichkeit des Kapitäns, ihn beim Nachnamen zu nennen, bemerkte, ließ er es sich nicht anmerken.
»Nein, Thay. Aber da mir die Anwendung meiner Begabung ohnehin untersagt ist, wüsste ich auch nicht, was ich sonst berichten sollte … Thay.«
»Wir werden die Windinseln passieren, ohne vor Anker zu gehen. Wir haben wichtige
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