Sturmwelten 01
sie jetzt keinen Gedanken verschwenden. Ihre erste Sorge galt der Sicherheit des Schiffs.
In einem solchen Sturm aufzuentern erforderte Mut und Geschick. Als Fähnrich war Roxane einige Male bei schwächeren Unwettern in die Wanten geklettert, und sie konnte sich noch gut an die schlingernden Bewegungen, die nassen Taue, das glitschige Holz und das vom Wasser schwere Segeltuch erinnern, das ihr mehr als einmal einen ordentlichen Schreck eingejagt hatte, wenn sie glaubte, den Halt zu verlieren. Ihre Lippen wurden schmal, als sie die Seeleute beobachtete, die inzwischen in die Rahen stiegen und sich nur auf den Seilen stehend vorarbeiteten. Zu ihrer Erleichterung sah sie, wie die ersten Segel gestrichen wurden. Ohne auf den weiteren Fortgang zu achten, wandte sie sich an den Bootsmaat: »Lassen Sie den Treibanker an Backbord über Bord gehen. Wir drehen bei.«
Sie wartete keine Antwort ab, sondern blickte wieder zu den Matrosen empor. Selbst die Toppsgasten am Großmast hatten bereits ihre Arbeit verrichtet, das Segel gerefft und gesichert, und stiegen nun wieder herab. Ohne den Druck der Segel richtete sich die Mantikor wieder auf und schwang langsam an der Ankerkette hin und her. Einige laute Herzschläge lang war das Schiff querab zu den Wellen, die immer wieder über das Deck brachen, dann hatte es sich in den Wind gedreht und ertrug die mehrere Fuß hohen Wellen stoisch. Für den Moment war das Schiff aus akuter Gefahr, und Roxane fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und wischte sich den Regen aus den Augen.
»Was geht hier vor?«
Das Brüllen war lauter als der Sturm, und als Roxane sich dem Kapitän zuwandte, schien sein Zorn auch größer als die Naturgewalten zu sein. Er hatte sich keinen Mantel übergezogen, sondern stand einfach in seiner Uniform, die binnen Sekunden vom Regen durchnässt wurde, vor ihr.
»Thay, ich habe alles Zeug reffen und beidrehen lassen. Der Wind hat …«
»Sie haben was ? Meine ständigen Befehle sind Ihnen doch wohl bekannt, Leutnant, oder nicht?«
»Ja, Thay, aber der Wind frischte zu schnell auf.« Während der Kapitän keine Mühe zu haben schien, sich über den Wind verständlich zu machen, musste Roxane brüllen, da ihre Worte sonst verschluckt worden wären. »Ich hielt es für meine erste Pflicht, für die Sicherheit des Schiffes zu sorgen.«
»Meine Order war deutlich. Ihre Pflicht wäre es gewesen, sich an diese zu halten. Sie machen einen Narren aus mir, indem Sie vor der ganzen Mannschaft meine Befehle missachten. Dafür werden Sie sich verantworten müssen, Leutnant.«
»Aye, aye, Thay«, erwiderte Roxane, die wie vor den Kopf geschlagen war. Die Kälte des Sturms hatte nun ihr Innerstes erreicht und lähmte sie. Ihr Vorgesetzter stand ihr gegenüber, hielt sich an einem Tau fest und funkelte sie voller Wut an. Unfähig, den Blick von ihm zu lösen, blieb Roxane stehen, bis er sich abwandte und zurück unter Deck kletterte. Vorsichtig blickte Roxane sich um, doch die wenigen Seeleute an Deck schienen den Wortwechsel nicht mitbekommen zu haben. Glücklicherweise gab es für sie jetzt nichts mehr zu tun, denn ihre Konzentration war gebrochen, und ihre Gedanken kreisten nur noch darum, was sie falsch gemacht hatte. Hätte ich den Kapitän tatsächlich noch vor dem Manöver informieren können? Hatte ich tatsächlich keine Zeit, oder habe ich seine Autorität untergraben? Ich war mir sicher, dass ich das Richtige tue . So sehr sie auch grübelte, sie musste immer wieder an seinen Blick denken, der derart hasserfüllt gewesen war.
Die Nässe war auch unter Deck allgegenwärtig, und der Versuch, die Uniform bis zur nächsten Wache zu trocknen, war zum Scheitern verurteilt. Das Schiff stampfte und wehrte sich gegen den Zug des Ankers, doch die mächtige Kette hielt, und so wies der Bug in den Wind. Roxane lag in der schwankenden Koje unter all ihren Decken und dem Ersatzmantel und zitterte erbärmlich. Sie spürte die Schläge der Wellen gegen den Rumpf und konnte jede Bö fühlen, die das Schiff krängen ließ. Die Intensität des Sturms war ihr unbegreiflich; selbst ohne Segelzeug und mit Treibanker fürchtete sie noch, dass die Mantikor einfach von der Gewalt des Meeres zerschlagen würde. Der Caserdote hatte in den Mannschaftsräumen zur Messe gerufen und betete mit den Gläubigen. Auf ihrem Weg unter Deck hatte Roxane in den grimmigen Gesichtern ihrer Schiffskameraden genau dieselbe Sorge um das Schiff gesehen, die auch sie umtrieb. Wenn der Sturm noch
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