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Sturmwelten 02. Unter schwarzen Segeln

Sturmwelten 02. Unter schwarzen Segeln

Titel: Sturmwelten 02. Unter schwarzen Segeln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hardebusch
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blickte Sinao aus blutunterlaufenen Augen an, sein Antlitz wirkte unter der braunen Haut fast grau.
    »Was hast du getan?«, flüsterte er heiser.
    »Ich weiß nicht«, antwortete Sinao wahrheitsgemäß. »Er hätte dich erschossen.«
    Der junge Maestre nahm diese Aussage einfach hin. Er hob die Hand vor sein Gesicht und betrachtete sechs Sekunden lang seine zitternden Finger.
    »Es hat wehgetan, aber das hätte eine Kugel wohl auch.«
    Wieder spürte Sinao die Präsenz, näher diesmal.
    »Was ist das?«
    »Ein Caserdote. Ein … Gegenmagier. Er versucht, uns auszuschalten.«
    Tatsächlich fühlte es sich für Sinao an wie ein Loch in der Welt, das sich ihnen näherte. Als würden ihre Augen an dieser Stelle nur noch Schwärze wahrnehmen und nichts mehr sehen können. Das Gefühl war einschüchternd und beängstigend – zum ersten Mal merkte Sinao, wie sehr ihre Wahrnehmung mit der Vigoris verflochten sein musste.
    »Wir müssen hier weg«, erklärte Manoel und rollte sich auf den Bauch. Vorsichtig stemmte er sich auf Hände und Knie. Es kostete ihn sichtlich Anstrengung. »Wenn er erst mal hier ist, dann können die Soldaten uns abknallen wie ein Paar Hasen.«
    Hektisch blickte Sinao sich um. Es gab ein schmales Fenster, doch ihr Zimmer befand sich im ersten Stock, und das Haus stand am Abhang. Sie konnten nicht einfach hinausspringen, denn unter dem Fenster ging es dreiundzwanzig
Schritt hinab in die Tiefe, auf das Dach des Gebäudes unter ihnen.
    »Was sollen wir tun?«
    »Wir … wir müssen …«
    Bislang hatte Manoel stets gewusst, was zu tun war. Er kannte die Wege an Bord, die Wege in der Stadt, er war selbstbewusst und schien immer Herr der Lage zu sein. Doch nun sah Sinao Angst in seinen Augen, und die Furcht griff auch wieder nach ihrem Herzen. Vor ihrem inneren Auge sah sie Majagua mit dem blutigen Lächeln, die Wunde in seinem Leib, aus der sein Leben in den Boden floss. Jetzt würden die Soldaten Manoel erschießen und vielleicht auch sie. Dann sehe ich dich wieder, Schafsjunge , dachte sie, während die Angst aus ihrem Herzen wehte, als wäre sie nur ein schwacher Nebel, den die Sonne vertrieb.
    Der Caserdote kam zögerlich weiter die Treppe herauf.
    »Können wir ihn nicht aufhalten?«, fragte Sinao.
    Langsam schüttelte Manoel den Kopf. »Ich habe viel Kraft verschwendet«, erklärte der junge Maestre. »Und ich kann kaum stehen. Wie soll ich mich gegen seine Macht wehren?« Die Resignation in seiner Stimme spiegelte sich in seinen Bewegungen, als er zu Boden sank. »Vielleicht lassen sie zu, dass wir uns ergeben.«
    Sinao ballte die Fäuste. Sich in die Gewalt der Thayns und ihrer Soldaten begeben? Der Tangyes von Lessan, der Verräter, die sie erst befreit hatten und sie dann angriffen ?
    Als sie die Hand wieder öffnete, umspielte Vigoris ihre Finger. Die Pforte war weit geöffnet, und die Energie strömte frei durch ihren Leib. Das Gefühl war erhebend, ein endloser Strom von Macht, der sich ihrem Willen scheinbar mühelos beugte. Es war, als hätte sie eine winzige Tür in ein Meer aufgestoßen, und das Wasser floss nun mit Macht herein. Die Vigoris war stark, und hinter der Pforte wartete noch mehr, endlos mehr.

    Sinao versuchte, die Kontrolle zu behalten, doch schon entglitt sie ihr unter dem Ansturm der mächtigen Welle, die sich wild und ungezügelt einen Weg aus ihr bahnte. Luft rauschte an ihren Ohren vorbei, brüllend wie ein Raubtier. Ihre Haare peitschten um ihr Gesicht, ihre Kleidung riss an ihrer Haut. Hinter ihr schrie jemand etwas, doch Worte hatten keine Bedeutung, Menschen hatten keine Bedeutung, nichts war wichtig – außer dem Strom. Noch stemmte sie sich dagegen, aber er zerrte an ihrem Selbst.
    Holzsplitter wirbelten um sie herum, Metall riss wie Papier, Bretter rasten durch die Luft. Es gab einen Ruck, ein kurzes Gefühl des Innehaltens, dann wurde Sinao davongespült und versank im atemberaubenden Strom der Vigoris.

FRANIGO

    Mit jedem Augenblick nahm Franigos Empörung weiter zu. Die Sonne war ungewöhnlich warm für einen Herbsttag, und der Wind ruhte zum ersten Mal seit Langem, aber er bemerkte das schöne Wetter kaum. Zu tief war er in seine Lektüre versunken, die ihn gefangen nahm – aber sicherlich anders, als ihr Autor es sich gewünscht hätte.
    »Schund!«, teilte er der Welt erbost mit. Er erhielt keine Antwort, was nicht weiter verwunderlich war, denn er saß allein auf der alten Bank, deren grüne Farbe bereits abblätterte und an einigen Stellen schon

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