Sturmwelten 02. Unter schwarzen Segeln
wahrhafte Qual, die durch ihren ganzen Leib lief, von jedem Finger zu jeder Zehe, von ihren Augen und ihren Ohren bis zu ihrem Herzen. Übelkeit stieg in ihr auf, und es gelang ihr gerade noch, sich auf die Seite zu wälzen, bevor sie sich übergab. Sie erbrach sich wieder und wieder, bis sie nur noch trocken würgte und ihr Körper spasmisch zuckte. Jemand berührte sie am Kopf, hielt sie fest, aber sie hätte nicht zu sagen vermocht, wer ihr half. Sie konnte kaum sagen, wer sie selbst war, so sehr war alles aus ihrem Geist gedrängt worden – alles außer dieser Qual.
»Ist ja gut«, flüsterte eine sanfte Stimme. Wie durch das Rauschen des Meeres hindurch erkannte Sinao Manoel. »Das wird vorübergehen. Ganz ruhig bleiben. Atmen. Denk nicht an den Schmerz.«
Der Ratschlag entrang ihr ein Lachen, das zu einem Hustenanfall wurde. Ihre Kehle war rau und wund, als habe sie viel geschrien, auf ihrer Zunge hing der Geschmack ihres eigenen Erbrochenen, sauer und eine neue Welle von Übelkeit auslösend. Sie wollte etwas sagen, um Wasser bitten, aber kein Wort kam über ihre rissigen Lippen.
»Du stehst noch unter Schock«, stellte Manoel fest. »Das ist nicht ungewöhnlich. Du hättest dich fast umgebracht.«
Mehr als ein Stöhnen brachte Sinao nicht zustande, obwohl sie ihn eigentlich einen mitleidslosen, grausamen Kerl schimpfen wollte.
»Du hast zu viel Vigoris durch deinen Körper geleitet. Viel zu viel, viel zu schnell. Sie ist durch dich hindurchgeströmt und aus dir heraus und hat dabei ihre Spuren hinterlassen. Du hattest noch Glück. Man kann leicht daran sterben. Knochen werden zermahlen, Muskeln reißen, Adern platzen. Angeblich sind sogar schon Maestre förmlich von innen heraus explodiert, als hätten sie eine Granate gefressen. Auf der Akademie gingen immer wieder solche Geschichten um. Aber das halte ich, ganz ehrlich gesagt, für Legenden.«
Seine Stimme plätscherte vor sich hin. Sinao konnte seinen Worten kaum folgen, aber seine Nähe beruhigte sie. Immer noch hielt er ihren Kopf in seinen Händen, und seine Finger streichelten über ihr Haar.
»Wasser«, brachte sie schließlich hervor.
»Ganz langsam«, befahl der junge Maestre, als er ihr einen Krug an die Lippen hielt. Sinao befolgte seine Anweisung, dennoch brannte jeder noch so kleine Schluck in ihrer Kehle. Aber wenigstens spülte sie so den üblen Geschmack aus ihrem Mund, und sie konnte die Zunge wieder bewegen.
Vorsichtig öffnete sie die Augen, doch das Licht war weniger grell als befürchtet, und es schmerzte kaum. Eine kleine Talglampe brannte und spendete nur rußiges Licht. Sie befanden sich in einem düsteren Raum, der winzig wirkte. Dicke Balken waren an der Decke zu sehen, und Spinnweben hingen wie Leichentücher zwischen ihnen. Es roch modrig, auf eine muffige Weise erdig, und der Geruch des Raumes vermischte sich unangenehm mit dem sauren Geruch ihrer Übelkeit.
»Wo sind wir?«
Manoel zuckte die Schultern. »Nachdem du das halbe Haus in Schutt und Asche gelegt hattest und dann umgekippt
warst, habe ich dich den Berg runtergetragen. Wir haben nicht mehr viele Freunde in Lessan, und ich musste das Quartier nehmen, das ich mit meiner bescheidenen Barschaft noch mieten konnte. Über uns is’ irgend’n Warenhaus, und das hier ist ein Keller, angeblich geheim.«
»Was ist geschehen?«
»Oh, du hast Vigoris in die Welt entlassen, aber nicht kunstvoll geformt, sondern roh und wild. Es is’ geschehen, was in solchen Momenten für üblich geschieht: Es is’ ziemlich viel kaputt gegangen.«
»Es tut mir leid«, erklärte Sinao und hob den Kopf. Schwindel überfiel sie, aber sie biss die Zähne zusammen und kämpfte dagegen an, bis sie aufrecht saß. Als sie an sich herabblickte, war äußerlich keine Veränderung an ihr zu erkennen, abgesehen vom Zittern ihrer Hände und dem Schmutz, der an ihr klebte.
»Du hast uns den Hintern gerettet, Sin. Die hätten uns verhaftet oder sogar umgelegt. Meine Güte, der Caserdote wusste vermutlich nicht einmal, wie ihm geschah.«
»Ist er … ist er tot?«
»Vermutlich. Ich habe mir nicht die Zeit genommen, nachzusehen.«
»Ich wollte nicht töten …«
Ihre Stimme verklang, als würden die dunklen Wände sie in sich aufsaugen.
»Sie hätten uns sonst getötet, das müssen wir ziemlich sicher annehmen. Die fackeln normalerweise nicht lange. Aber das muss jeder mit sich selbst ausmachen. Ich kann dir nur sagen, dass ich froh bin, dass es ihn erwischt hat und nicht uns.«
Der Geruch
Weitere Kostenlose Bücher