Sturmwelten 03. Jenseits der Drachenküste
Wappen und keine Livree wiesen auf den Besitzer hin. Der
Mann auf dem Kutschbock trug einen weiten Mantel und hatte seine Kappe auf dem schütteren Haar zurückgeschoben. »Mesér«, grüßte er höflich und tippte sich mit zwei Fingern gegen die Stirn, als er Franigo und seinen Begleiter entdeckte. Dann sprang er auf den Boden und öffnete den Schlag für seine beiden Passagiere.
Franigo zögerte einen Moment, ehe er einen Fuß auf den Tritt setzte. »Bevor ich einsteige, guter Mann, wüsste ich doch gern noch, wohin uns die Reise eigentlich führen wird.«
Die hellen Augen seines Begleiters musterten ihn aufmerksam, und der Dichter vermeinte, einen milden Spott in dem Blick zu erkennen.
»Zunächst fahren wir nach Boroges«, erklärte der Alte. »Und von dort aus … Nun, wir werden sehen.«
»Boroges also. Nun gut. Warum auch nicht?« Damit schwang sich Franigo ins Innere der Kutsche und ließ sich auf die abgeschabten Lederpolster fallen. Sobald sein Begleiter ihm gegenüber Platz genommen hatte und der Kutscher wieder auf den Bock geklettert war, schlug der Alte mit der flachen Hand gegen die Decke und gab so das Signal zur Abfahrt.
Die Fahrt durch die Nacht war eine raue Reise, auf der Franigo seinen wild jagenden Gedanken nachhing. Wer mochte sein geheimnisvoller Retter in Wirklichkeit sein? Schon die wenigen, kurzen Sätze, die sie bislang miteinander gewechselt hatten, waren genug gewesen, um den Poeten davon zu überzeugen, dass der Alte ihm mit Vorbedacht auswich und seine wahren Motive zu verbergen trachtete.
Doch da dem Dichter gerade nicht nach einem Gespräch zumute war, verschob er es auf später, die Absichten seines Gegenübers zu erkunden.
Stattdessen hing er Erinnerungen nach, die plötzlich und ungefragt auf ihn einströmten, Szenen und Bilder seines bisherigen Lebens, das so wechselvoll verlaufen war. Er musste
an Cabany denken, an das Theater, die gelungenen Verse, die Gerüche, den Gesang, die Stimmung seiner so erfolgreichen Premiere. An Esterge, dessen Schicksal er nicht kannte, ja, von dem er nicht einmal wusste, ob er die Nacht überlebt hatte, in der Franigo ihn mit dem Degen niedergestreckt hatte. Yuone kam ihm in den Sinn, so ehrgeizig wie er selbst, mit ihrem unvergleichlichen Lächeln und ihrem Akzent, der so süß in seinen Ohren geklungen hatte.
Selbst die Zeit, die er auf der Flucht verbracht hatte, erhielt in der Rückschau einen gewissen Glanz, hatte er doch damals wenigstens ein Ziel und einen Ort gehabt, an den er hätte heimkehren können. Die große Rebellion hingegen, die ihn mit sich gerissen hatte, war in seinen Erinnerungen nur eine schnelle Abfolge von sich überstürzenden Geschehnissen, die er noch immer nicht einfach erklären konnte. Sein Aufstieg zum Poeten des Volkes, zum Wortführer und Politiker. Sein tiefer Fall, als die Rebellion begann, ihre eigenen Kinder zu fressen.
Und all dies mündete nun in dieser Kutschfahrt. Sein Talent hatte ihn zu höchsten Ehren und in die tiefste Schmach geführt. Beinahe hätte er es verflucht, aber die groben Worte wollten sich nicht einmal in seinen Gedanken formen, geschweige denn ihm über die Lippen kommen. In diesem Augenblick war sein Talent, war sein Werk alles, was ihm noch geblieben war, das Einzige, was zwischen ihm und dem Nichts stand.
»Seid Ihr damit beschäftigt, Pläne zu schmieden?«
Die Stimme seines Gegenübers riss Franigo aus seinen Grüblereien. Sie wirkte nun angenehm, gesetzte Worte in ruhigen Tönen, altersmilde und beruhigend.
»Nein, Mesér. Dafür ist es zu früh.«
»Ah, dann habt Ihr Euch eher an die Vergangenheit gehalten.«
Franigo runzelte die Stirn. Seine Antwort war wachsam: »Ihr scheint ein guter Beobachter zu sein.«
»Ich würde mich eher einen Kenner der menschlichen Natur nennen. Das ist ein Vorteil des Alters; man hat vieles erlebt und gesehen und kann auf vielerlei Erfahrungen zurückgreifen.«
Der Poet nickte und lächelte unverbindlich. Schon wollte er wieder in Gedanken versinken, als der Alte weitersprach: »Eine gute Wahl. Die Vergangenheit, meine ich. Aus ihr lernen wir für die Zukunft. In ihr ist viel Weisheit für diejenigen verborgen, die nach ihr zu suchen wissen.«
Die Worte des Alten begannen, Franigo trotz der angenehmen Stimme zu stören. Allgemeinplätze, befand er. Ich hoffe, der Mann ist kein religiöser Eiferer!
»Das mag sein«, erwiderte er deshalb vage und sah demonstrativ aus dem Fenster, auch wenn in der Dunkelheit kaum etwas zu erkennen war.
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