Sturmwind der Liebe
ruchlosen Testament gehört hatte? Nein, niemand würde die Einzelheiten erfahren. Daniel Raymond war verschwiegen wie eine Auster.
Was sollte sie mit Alec anfangen?
Genny hatte nur zwei Stunden auf der
Pegasus
verbracht. Sie unterhielt sich kurz mit Boß Lamb. Als sie unter Deck in die Kapitänskajüte ging, schnaubte er sich geräuschvoll die Nase. Ihr Vater wäre dagegen gewesen, daß sie hier wie eine arme Närrin immer weiter machte. Die Durchsicht der Konten verursachte ihr Kopfschmerzen. Sie konnte es drehen, wie sie sollte, die magere Dollarsumme unter dem Strich wurde nicht größer. Es war kaum genügend Geld vorhanden, um den Männern am Freitag den Lohn auszuzahlen. Und wenn sich dann kein Käufer für die
Pegasus
fand … Sie schüttelte den Kopf. Was machte das schon! Wer immer die Werft kaufte, würde auch die
Pegasus
bekommen. Es machte wirklich nichts aus.
Nach zwei Stunden verließ Genny die Werft. Sie beschloß, zu Fuß nach Hause zu gehen. Es war schon an schönen Tagen eine beträchtliche Entfernung. Doch heute hing der Himmel voll dunkler Regenwolken. Daher waren auch nur wenige Menschen unterwegs. An der Ecke Pratt Street und Frederick Street blieb sie einen Augenblick stehen, um die
Night Dancer
zu betrachten, die sicher vertäut vor der O’Donnell-Werft lag. Es war ein schönes Schiff, nicht so schlank und schnittig wie ihr Baltimore-Klipper gebaut, dafür aber so solide konstruiert, daß sie den schlimmsten Winterstürmen trotzen konnte.
Genny senkte den Kopf und ging weiter.
Alec wollte sie heiraten. Was sollte sie tun?
Sie wußte, daß er sie nicht liebte. Aber sie liebte ihn ja auch nicht. Sie würde gern die nächsten fünfzig Jahre mit ihm leben. Aber Liebe? Alec war ein Mann, der von seiner Frau erwartete, daß sie sich so benahm, wie er und die meisten Männer es für anständig hielten. O ja, sie kannte die Art von Frau, die Alec sich wünschte. Immer unterwürfig, ständig nachgebend, nie eine andere Ansicht als er vertretend. Und immer in Rüschen oder ganz ohne. Nein, Alec würde sie nie mit einem Verhalten abfinden, das seinen Vorstellungen von weiblicher Würde zuwiderlief. Dieser Schuft!
Was sollte sie nur tun?
Alec wollte die Werft haben. Und ebenso die
Pegasus.
Wenn er sie heiratete, bekam er beides, und das, ohne einen Sou auszugeben. Sie schüttelte den Kopf. So durfte sie nicht denken. Das brachte sie keinen Schritt weiter. Denn Alec war ja ohnehin ein reicher Mann – jedenfalls nahm sie das an. Ihr Vater war ja auch davon ausgegangen. Und wenn er wirklich so reich war, konnte es ihm gleichgültig sein, ob die Paxton-Werft in seine Hände überging oder nicht. Er konnte leicht eine andere kaufen. Und brauchte sich dann nicht obendrein an eine Frau zu binden, die ganz offensichtlich nicht zu seinem Lebensstil paßte.
Und wenn sie nun schwanger war?
Nun, dann würde sie es genauso machen wie Alec und mit ihrem Kind über die Weltmeere segeln, von einem Abenteuer zum anderen. Und ihr Kind würde wie Hallie werden – frühreif, manchmal zu freimütig und von freundlichem Wesen. Wer würde bei ihrer Besatzung anheuern? Männer, die so blind waren, sie für einen Mann zu halten? Sie beschleunigte ihren Schritt.
»Ach, Miß Paxton. Sie glauben wohl, daß das Wetter sich hält?«
Genny drehte sich um, als sie Laura Salmons Stimme vernahm. »Hallo, Mrs. Salmon. Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis der Himmel seine Schleusen öffnet.«
Laura hob nachlässig die Hand. »Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, wie sehr es mir um Ihren Vater leid tut. Hoffentlich haben Sie sich ein wenig von dem Schicksalsschlag erholt.«
»Ja, es geht mir schon recht gut.«
»Nach Ihrer Kleidung zu urteilen, sind Sie wohl wieder in der Werft Ihres Vaters herumgeklettert.«
»Es ist jetzt meine Werft, Laura.«
Laura trug ein modernes Straßenkleid aus dunkelgrünem Samt mit schwarzen Samtborten. Dazu einen passenden hochkrempigen Hut aus dem gleichen Material. Um ihre Wange legte sich eine schwarze Straußenfeder. Sie bot einen hübschen Anblick. Sie sah aus, wie eine Frau auszusehen hatte. So wie Alec es an Frauen liebte.
Mit einstudierter Lässigkeit fuhr Laura fort: »Ich hörte, daß Baron Sherard bei Ihnen wohnt. Nun, Miß Paxton, das ist unter den gegebenen Umständen höchst ungewöhnlich.«
Genny dachte daran, wie Hallie heute morgen in ihr Zimmer gekommen war, und erwiderte: »Seine Tochter gibt eine ausgezeichnete Anstandsdame ab.«
»Seine Tochter! Ich verstehe nicht.
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