Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
sich gab.Wovor wollte es sie warnen? Vor dem unerlaubten Öffnen oder vor seinem schrecklichen Inhalt?
Jakow drehte sich um und verschwand in seiner Kammer. Entsetzt sah Anki ihm nach. Er konnte sie mit dieser Entscheidung doch nicht einfach allein lassen! Es dauerte ein paar kräftige, aufgeregte Herzschläge, bis sie sein Tun verstand. Niemand, nicht einmal er, würde jemals erfahren, was genau sie mit der Nachricht getan hatte. Es war ihre Entscheidung, ihr Geheimnis.
Langsam, als fiele ihr jede Bewegung unendlich schwer, wandte Anki sich ab und ging in Richtung Treppe. Dort brannte noch immer die Stehlampe. Ein einsames Licht in der Dunkelheit, die nach Ankis Herzen greifen wollte. Alles um sie her befand sich im Umbruch; eine Entwicklung löste die vorherigen in rasanter Geschwindigkeit ab, noch ehe Anki sie vollständig erfassen konnte. Sicherheit gab es nicht mehr.
Sie ließ sich schwer auf die dritte Stufe fallen und strich ihren Rock glatt, während sie wie gebannt auf die Mitteilung in ihrer bebenden Hand starrte.
Behutsam, als fürchtete sie, das Blatt könne wie nach einer Verletzung zu bluten beginnen, faltete sie es auf. Hektisch wanderten ihre Augen über die für sie nicht flüssig zu lesenden kyrillischen Buchstaben.
Die Nachricht war niederschmetternd konkret: Man hatte Fürst Chabenski in einer von den Deutschen überrannten Stellung zurücklassen müssen. Er habe zu diesem Zeitpunkt bereits eine Schusswunde in der Brust und schwerste Verbrennungen durch einen Flammenwerfer erlitten. Mit einer Heimkehr des von seinen Truppen verehrten und tapferen Obersts Ilja Michajlowitsch Chabenski war nicht zu rechnen. Fortan werde er als tapfer im Kampf für das geliebte Heimatland gefallen geführt.
***
Eine blutrote Sonne stieg über die Dächer der Stadt, vertrieb die Schatten aus den Straßen und brachte das Wasser in den Kanälen und Flussläufen zum Glitzern. Tauben gurrten, Möwen kreischten und die von den Fassaden widerhallenden Geräusche der Pferdehufe, Wagen und Automobile nahmen an Intensität zu. Petrograd erwachte zum Leben, während Fürstin Chabenskis zu Ende ging.
Anki saß erneut auf den Stufen zur Galerie, diesmal allerdings fast ganz oben. Sie beobachtete, wie die Strahlen der ungewöhnlich orange gefärbten Sonne durch die hohen Palastfenster drangen und zuerst das Holz der Treppe und des Geländers, schließlich die Wandvertäfelungen im Ballsaal und das Parkett zum Glühen brachten. Ihre Gedanken und Gebete flatterten unstet wie ein Schmetterling von der Fürstin zu deren Kindern, die nun bei der Sterbenden weilten. Von dort flogen sie zu Robert, um dann wieder bei ihrer Arbeitgeberin zu landen.
Anki hatte das Telegramm noch in der Nacht der Schwiegermutter von Fürstin Chabenski übergeben, die sich momentan im Haus aufhielt; sie hatte die Dame seither aber nicht mehr gesehen. Vermutlich hatte sie sich in ihre Gästeräumlichkeiten zurückgezogen und es ebenfalls nicht gewagt, der um ihr Leben kämpfenden Frau die schreckliche Nachricht zu übermitteln.
Anki zuckte vor Schreck zusammen, als eine Tür aufflog und krachend gegen die Wand donnerte. Jelena stürmte aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter, prallte nach ein paar Schritten gegen das Geländer und klammerte sich Halt suchend daran fest. Anki sprang auf und stieg die Stufen hinauf, doch da hatte das Mädchen sich bereits umgewandt und rannte an der besorgt herbeieilenden Marfa vorbei in ihr Zimmer.
Katja betrat den Flur und blieb unschlüssig vor der Tür stehen. Große Tränen kullerten der Achtjährigen über die Wangen. Die Verwirrung darüber, dass man ihr gesagt hatte, sie müsse sich von ihrer Mutter verabschieden, war ihr deutlich in das kindliche Gesicht geschrieben. Die sonst so aufmüpfige Nina trat neben ihre kleine Schwester, nahm sie bei der Hand und zog sie mit sich in ihr Zimmer.
Anki stiegen die Tränen in die Augen. Sie wartete, bis sich die Tür hinter den Prinzessinnen geschlossen hatte, ehe sie dem Wunsch der Fürstin entsprechend deren Privatgemach betrat. Heute war sie nicht in der Lage, die erlesene Schönheit der Nussholzmöbel und die zarten Farben der Damasttapete wahrzunehmen. Ihr Blick glitt über die vielen Fotografien von verschiedenen Reisen in ferne Länder, die gerahmt eine neben der anderen an den Wänden hingen und auf den Kommoden standen. Schließlich zwang sie ihren Blick auf das blasse, eingefallene, einst so würdevoll-schöne Gesicht der Fürstin, die in ihrem Himmelbett nahezu
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