Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
erzeugten, nicht lange etwas entgegenzusetzen hatte. Seine vorletzte Nacht in Paris hatte er auf der Suche nach Roth verbracht, die letzte auf der Suche nach Treibstoff im Grenzgebiet zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich.
Müde, deswegen jedoch nicht weniger interessiert, betrachtete Philippe Demys Profil. Sie saß gegen die Scheibe gelehnt da und blickte hinaus auf die vorbeiziehenden Wälder und Wiesen. Die Sonne stand tief im Westen und hob mit ihren Strahlen die reifen, goldgelben Getreidefelder vor den dunklen Waldflächen hervor.
Die junge Frau wirkte ruhig und gefasst, ganz so, wie sie es von ihrer Gouvernante Henriette Cronberg gelernt haben musste. Hätte die junge Frau nicht ein etwas in Mitleidenschaft gezogenes Kostüm getragen, hätte man durchaus annehmen können, sie sei eine respektable Dame aus gutem Hause. Das war ja auch der Sinn ihrer Erziehung gewesen. Allerdings hatte er in den vergangenen Stunden nach wie vor ihren Eigenwillen, ihre Streitbarkeit und einen Geist, der nach Freiheit strebte, an ihr entdeckt. Weder die Gouvernante noch die plutokratische Gesellschaft, in der sie seit Jahren lebte, hatten ihr diese Wesenszüge rauben können. Philippe war ehrlich genug, um sich einzugestehen, dass ihm gefiel, was er sah. Deutlich weniger behagte ihm die Tatsache, dass Demy innerhalb von Sekunden Anthony Fokker verzaubert hatte. Der sonst so arbeitsame, ehrgeizige und etwas eigenbrötlerische Anthony hatte sich auf Niederländisch mit ihr unterhalten, von dem Philippe nicht mehr als einzelne Wortfetzen verstand, und mit ihr gelacht. Ganz offenbar wirkte ihr natürlicher, offener Charme nicht nur auf Philippe sehr anziehend.
War dies der Grund, weshalb er Demy nicht einfach in den Zug nach Berlin gesetzt hatte, sondern sie begleitete und somit nach über sechs Jahren erstmals wieder das Haus betreten würde, in dem er ab seinem fünften Lebensjahr gelebt hatte?
Als könne Demy seine Gedanken lesen fragte sie gegen das monotone Rattern der Räder an: »Wie oft haben Sie sich in den letzten Jahren in der Nähe von Berlin aufgehalten, ohne Ihre Familie zu besuchen?«
»Praktisch jede Semesterferien. Ich habe zuerst bei Hans Grade gearbeitet, später als Fluglehrer auf den Flugplätzen Johannisthal und Döberitz. Seit rund einem Jahr konstruiere ich Flugzeuge bei Fokker.« Philippe setzte sich aufrechter auf den Holzsitz, ließ allerdings seine Beine ausgestreckt und die Hände im Nacken. Seine Gesprächspartnerin bemerkte dies nicht, da sie zum Fenster hinaussah. Oder beobachtete sie ihn im Spiegelbild der zerkratzten Scheibe?
»Edith und Hannes luden mich regelmäßig zu sich ein«, fuhr er fort. »Dort erfuhr ich von den neuesten Geschäftsentwicklungen bei Meindorff-Elektrik, von Josephs expandierender Brauerei, diversen Hochzeiten und Todesfällen, Tillas Reisen, zu denen sie Sie immer mitnahm, niemals aber ihren Ehemann, und selbstverständlich auch von Ihren Eskapaden.«
Demy warf ihm einen unfreundlichen Blick zu. »Aus welchem Grund haben Sie das Haus Ihres Ziehvaters gemieden?« Kaum, dass sie die Frage ausgesprochen hatte, hob sie auch schon entschuldigend die Hand. Ihre Neugier stand ihr ins Gesicht geschrieben, doch wusste sie, dass er ihr keinerlei Rechenschaft schuldig war.
»Vermutlich, weil ich mich keiner Begegnung mit Ihnen aussetzen wollte.« Er grinste breit, was sie jedoch nicht sah, da sie sich wieder dem Fenster zugewandt hatte. »Sie fanden mich vor ein paar Jahren unerträglich. Nun sind Sie reifer geworden –nicht zwingend vernünftiger, wie ich bemerkte –, aber vielleicht ein bisschen großzügiger, was Ihr Urteil anderen Menschen gegenüber angeht?«
»Sie sind nach wie vor uncharmant!«
»Damals kannten Sie das Wort noch gar nicht, schwarzes Schäfchen.« Er beobachtete, wie sie missbilligend ihre Augenbrauen zusammenzog.
»Was planen Sie zu tun, sobald wir in Berlin angelangt sind?«
»Sie, wie es sich gehört, nach Hause begleiten.«
»Und gehen, bevor jemand aus dem Haushalt Meindorff Sie sehen könnte?«
Philippe rieb sich über die knisternden Bartstoppeln. Seine gute Laune war verflogen. »Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass Sie sich bei den Meindorffs wohlfühlen. Also werfen Sie mir mein Fernbleiben nicht vor! Ich gehöre ebenso wenig wie Sie zu dieser Familie, selbst wenn meine Pflegeeltern mir ihren Namen verpasst haben.«
Jetzt hatte er Demys ungeteilte Aufmerksamkeit erlangt. Sie setzte sich aufrecht hin und sah ihn offen an. »Das
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