Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
tue ich nicht. Ich verstehe Sie sogar sehr gut. Vielleicht beneide ich Sie darum, dass Sie die Möglichkeit besaßen, fortzugehen und Ihr Leben so zu gestalten, wie Sie es für richtig hielten.«
» Meine Pläne hätten anders ausgesehen. Aber wir sind nicht die Herren über unser Leben und das der anderen. Selbst wenn wir mit unserer Intelligenz und Schaffenskraft, mit unserem eigenen Willen und Wollen weltbewegende Erfindungen hervorbringen oder folgenreiche Entscheidungen treffen, hält letztendlich noch immer ein Größerer alles in seinen Händen.«
»Sie denken demnach, dass all die Widrigkeiten, die Sie und auch ich durchlebten und in denen wir noch stecken, einen tiefer gehenden Sinn haben?«
»Einen Sinn, den nur Gott kennt – vorerst.«
Demy nickte ernst, hüllte sich aber in Schweigen. Vermutlich hatte sie solche Äußerungen nicht von ihm erwartet. Immerhin kannte sie nur das, was man in Berlin über ihn erzählte. Er war nach der Ermordung seiner großen Liebe durch viele leidvolle Täler gegangen. Wer wusste schon, ob er heute noch leben würde – und falls ja, in welcher seelischen und körperlichen Verfassung –, hätte es den Missionar nicht gegeben, der ihn damals betreut hatte.
»Ich besuche meine Pflegefamilie, denn ich bin nicht so vermessen anzunehmen, dass ausgerechnet die Meindorffs vom Krieg und seinen grauenhaften Folgen verschont bleiben. Und ich hoffe und bete, dass ich sowohl den alten Meindorff als auch Joseph, Hannes und Albert antreffe, ehe sie sich auf ein Schlachtfeld werfen.«
Erneut nickte Demy ihm zu. Dieses Mal fiel ihr Blick freundlicher aus. Sie wusste, was es hieß, Familienangehörige zu verlieren. Immerhin war ihre Mutter nach der Geburt ihres Bruders gestorben, ihre zweite Halbschwester lebte seit sieben Jahren in St. Petersburg und der Vater war 1908, kurz nachdem er vor Philippe und der Kaiserlichen Schutztruppe aus Afrika geflohen war, tot in einem Kanal gefunden worden.
Mit quietschenden Bremsen und einem heftigen Ruck, der Demy veranlasste, sich an ihrem Sitzplatz festzukrallen, stoppte der Zug in einem Bahnhof. Auf dem überfüllten Bahnsteig drängten sich Uniformierte und Familienmitglieder, die sich von ihnen verabschiedeten. Lärmende Zurufe und Gelächter drangen bis zu den Passagieren vor. Auf der anderen Seite des Zugkorridors nahm eine Frau ihr Kleinkind auf den Arm.
Der Waggon füllte sich mit Soldaten. Sie stießen sich übermütig an, ließen sich auf die freien Plätze fallen oder rissen die Fenster auf, um ihren Lieben auf dem Bahnsteig ein letztes Mal zuzuwinken.
»Kommen Sie herüber«, wies Philippe Demy knapp an. »Aber …«
Philippe wartete keinen Einwand ihrerseits ab. Er beugte sich vor, ergriff sie am Handgelenk und zwang sie so, aufzustehen und den Platz zwischen ihm und dem Fenster einzunehmen. Kaum, dass sie saß, holte er aus der Gepäckablage ihre erbeutete Fliegermontur und legte sie sich über die Oberschenkel. Nur Sekunden später zwängten sich drei Soldaten zu ihnen. Ihre Blicke streiften ihn kurz, machten ihn als uninteressanten Zivilisten aus und wanderten dann umso aufmerksamer zu seiner Begleiterin.
Der Waggon, eben noch beschaulich ruhig, hallte von den fröhlichen Stimmen der zugestiegenen Fahrgäste wider, hinzu mischte sich das verängstigte Weinen des Kleinkindes.
»Gehören Sie zu dem Mann da?«, zischte ein spindeldürrer Infanterist in Demys Richtung, als sei Philippe in einem Alter, das auf einen gewissen Grad an Schwerhörigkeit hindeutete. Philippe starrte den Fragesteller finster an, der seinerseits Demy mit seinen Blicken verschlang. Schließlich stieß der Sitznachbar den Infanteristen an, um ihn auf den Zivilisten aufmerksam zu machen. Philippe hob lediglich die linke Augenbraue. Der Fußsoldat zog ein Gesicht und lehnte sich zurück.
»Wohin reisen Sie?«, wollte ein anderer Soldat, vermutlich kaum älter als Demy, von Philippe wissen und warf einen interessierten Blick auf die warme Felljacke und den blau-braunen Strickschal in seinen Händen.
»Berlin.«
»Wollen Sie sich freiwillig melden? So alt sind Sie ja noch nicht. Noch keine dreißig, nicht?«
Philippe nickte nur. Er spürte, wie Demy neben ihm zurückwich, als der dritte Mann sich erhob und sich direkt vor sie stellte, um das Fenster zu öffnen.
»Sie bedrängen die Dame, Rekrut«, wies er den unvorsichtigen Mann zurecht und sprach ihn dabei absichtlich mit dem niedrigen Dienstgrad an.
»Ich bin Gefreiter, Zivilist«, gab der
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