Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
Ivanowna wurde noch immer nicht gefunden«, begann Anki zögernd. »Ihre Eltern und Geschwister sind verzweifelt – und wütend. Zwei Damen, die sich damals mit dir und Jevgenia im Nowaja Derewnja-Rajon in diesem Zigeunerlokal aufhielten, haben ausgesagt, Jevgenia und du hätten die Villa Rhoda gemeinsam mit Rasputin verlassen. Das war das letzte Mal, dass jemand die Herzogin sah.«
»Die Brücke …« Ljudmilas Worte waren nicht mehr als ein Hauch.
»Eine Brücke? Die aus deinen Träumen, von der du mir erzählt hast?«
Ljudmila schüttelte heftig den Kopf, wobei die Sonne goldene Reflexe über ihr kupferfarbenes Haar tanzen ließ. »Nein, eine andere Brücke. Die Erinnerung daran ist irgendwo …« Ljudmila schlug sich mehrmals mit den flachen Händen gegen ihre Stirn. »Irgendwo hier drin.« Sie stieß die Worte keuchend aus und zog dabei ein verzweifeltes Gesicht, das verdeutlichte, wie fieberhaft die Russin nach Antworten suchte. »Es war dunkel. Die Brücke war ein schwarzes Etwas über ein genauso schwarzes Gewässer …« Sie brach ab und vergrub ihr Gesicht hinter ihren bebenden Händen.
Anki blies die Wangen auf und ließ die Luft langsam wieder entweichen. War Jevgenia in einem angeheiterten oder ebenfalls umnebelten Zustand von einer Brücke gestürzt? Die Mauern entlang der Kanäle boten keinen Halt. Zu später Stunde, wenn die Straßen menschenleer im Dunkeln lagen, war es durchaus möglich, dass niemand sie im Wasser treiben sehen hatte, was zwangsläufig ihr Todesurteil bedeutet hätte. Mehrere Hundert Brücken spannten sich über die Wasserstraßen zwischen den 42 Inseln hinweg, auf denen die Stadt im sumpfigen Neva-Delta erbaut worden war. Nicht umsonst nannte man St. Petersburg das Venedig des Nordens. Der Nowaja Derewnja-Rajon, in dem sich das Zigeunerlokal Villa Rhoda befand, war unter der Bezeichnung Die Insel bekannt. Er war von einer Vielzahl von Kanälen durchzogen, die alle in die Neva mündeten. Es würde nahezu unmöglich sein, die betreffende Brücke und somit Jevgenias Leichnam zu finden.
Anki wollte ihre Freundin nicht drängen, in ihrem angeschlagenen Gedächtnis nach Erinnerungen zu forschen. Ihre Angst, sie könnte daraufhin wieder in apathisches Schweigen verfallen, hielt sie davon ab.
»Liebes? Ist das nicht zu anstrengend für dich?« Ljudmilas Mutter, in einem federleichten Traum von einem sommerlich-weißen Teekleid, näherte sich ihrer Parkbank.
Sofort sprang Anki auf und sank in einen Knicks, wurde von der Gräfin aber ignoriert. »Ob dieser Ausflug ein guter Gedanke war, Luda?«
»Ein guter Gedanke, Mutter? Der allerbeste, den Anki je hatte. Ich bin aufgestanden, obwohl ich dachte, mein Leben sei bereits vorüber.« Ljudmila klang längst nicht so fröhlich, wie es ihre Worte vermuten ließen. Doch der Versuch, ihre überbesorgte Mutter zu besänftigen, gelang. Sie setzte sich neben ihre Tochter und legte fürsorglich den Arm um sie. Aus dem Blick der Mutter sprach tiefer Kummer. Offenbar hielt sie Ljudmilas Leben sehr wohl für beendet. Ob die Aristokratin damit haderte, einem zukünftigen, gesellschaftlich hochstehenden Schwiegersohn keine unversehrte Braut mehr zuführen zu können?
»Mutter, stell dir vor: Die Chabenskis haben mich eingeladen, sie in ihr Landhaus in Zarskoje Selo zu begleiten.«
Anki konnte ihre demütige Haltung nicht länger beibehalten. Sie wich mit gerunzelter Stirn hinter ein paar Sonnenblumen und einen Strauch Sommerflieder zurück, die mit ihren leuchtend gelben und weißen Blüten die pure Lebenslust verkündeten. Ihre Freundin musste doch wissen, dass ihr Vorschlag keiner Einladung der Familie Chabenski gleichkam!
»Das ist eine freundliche Geste, mein Kind. Vielleicht wäre es gut, das großmütige Angebot Fürstin Chabenskis anzunehmen. Du kannst dich in ihrer Sommerresidenz erholen, und Dr. Botkin wird in deiner Nähe sein. Soweit ich unterrichtet bin, pflegen die Chabenskis in Zarskoje Selo Kontakte mit anderen Adelshäusern, auch mit Familien außerhalb Petersburgs. Besuchten nicht vor ein paar Jahren sogar Delegationen der niederländischen und englischen Königshäuser eine Matinee im Sommerhaus?«
Für Gräfin Zoraw war Ljudmilas Besuch bei den Chabenskis wohl eine ausgemachte Sache, und Anki würde zusehen müssen, wie sie dies ihrer Arbeitgeberin vermittelte.
»Im Augenblick möchte ich dich gern hineinbegleiten. Ich fürchte, es ist hier draußen zu kühl. Und zudem haben wir eine Menge für deinen Aufenthalt in Zarskoje
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