Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
verstehe nicht, was du meinst.«
»Anastasia hat mich gestoßen, sodass ich ins Wasser fiel. Und Raisa damals …«
Anki hob eine Hand, um das Kind zum Schweigen zu bringen. »Jelena, der Bruder von Anastasia Nikolajewna ist gestürzt. Die Zarewna ist darüber sehr erschrocken und da wollte sie schnell aus dem Wasser. Vielleicht hat sie dich dabei versehentlich geschubst.«
»Vielleicht«, murmelte Jelena, schüttelte dabei aber den Kopf, als glaube sie das selbst nicht.
»Und was war mit Raisa?«, hakte Anki nach.
»Sie hat mich bei Ninas Geburtstagsparty absichtlich gegen die Statue gestoßen. Deshalb habe ich mir das Schlüsselbein gebrochen.«
»Irrst du dich auch nicht, meine Kleine? Ihr habt recht wild getanzt. Die Mädchen zogen und zerrten an dir. Raisa stand doch abseits und sah euch zu.«
»Sie hat mich gestoßen!«, beteuerte Jelena und befreite sich aus Ankis Armen.
Jelena benahm sich gelegentlich unbändig und forsch, jedoch nicht unhöflich. Es gab keinen Grund, weshalb Raisa oder gar die Zarewna sie absichtlich zu Fall bringen sollten – obwohl Ljudmila Anastasia ab und zu als dickköpfig und böswillig bezeichnet hatte.
Anki erhob sich und besah kritisch ihren nassen, ehemals mintfarbenen Sommerrock. Ob sie in dieser Aufmachung den Palast betreten durfte? Ihr Blick glitt über die Decke, vorbei an den verwaisten Stühlen zu den Ehrfurcht gebietenden korinthischen Rundsäulen, die aussahen, als wollten sie ihr den Zutritt zum Palais versperren. Aber Fürstin Chabenski, die Zariza und die Hofdame Wyrubowa waren mitsamt dem Thronfolger und den Großfürstinnen im Inneren des Respekt einflößenden Gebäudes verschwunden.
»Dürfen wir einfach hineingehen, Jelena? Was meinst du?«
»Warum denn nicht? Das Haus ist doch winzig und primitiv gegen das Winterpalais oder das Katharinenpalais hier in Zarskoje Selo!« Jelena sah sie mit ihren großen Kirschaugen verständnislos an, ergriff energisch ihre Hand und zog sie mit sich in Richtung des linken Treppenaufganges. Ohne von den beiden Wächtern aufgehalten zu werden traten sie ein.
Anki überließ sich vollkommen Jelenas Führung. Entweder war das Mädchen früher schon einmal im Alexanderpalais gewesen, oder es verfügte über einen exzellenten Orientierungssinn, denn innerhalb kürzester Zeit befanden sie sich in dem den Kindern vorbehaltenen linken Wohnflügel. Zusammen betraten sie das mit allerlei Krimskrams vollgestellte Rote Wohnzimmer 22 . Der Raum war mit seinen exklusiven Möbeln, dem Piano, dem großen Porträt von Großherzogin Alice von Hessen und bei Rhein, den mit Blumen bedruckten Tapeten und Vorhängen und den weiß und scharlachrot geblümten Sofa- und Sesselbezügen für Ankis Geschmack entschieden zu überladen. Hier hielten sich Fürstin Chabenski, Katja und Nina gemeinsam mit der Hofdame Wyrubowa und den beiden jüngeren Romanow-Schwestern auf. Ihnen gegenüber lag eine lang gezogene Zimmerflucht. Durch die offen stehenden Türen konnte Anki einen Blick in die verschiedenen Räume der Zarenkinder bis in das weit entfernte Spielzimmer des Zarewitschs werfen.
Bedrückende Stille herrschte, einzig unterbrochen von dem metallischen Ticken der Uhr auf einer Kommode. Ein Dienstmädchen trat unaufgefordert ein und wickelte Jelena in eine Decke. Anschließend reichte sie Anki ebenfalls ein Exemplar, wobei sie tief knickste, was das Kindermädchen verlegen stimmte. Ihr war nicht kalt, jedoch bedauerte sie die Tropfspuren und unschönen Wasserlachen, die Jelena und sie auf dem Teppichboden hinterließen, während sie hinüber zu den beiden erwachsenen Frauen gingen.
»Wie geht es dem Zarewitsch?«, fragte sie auf Russisch, da sie die anwesende Hofdame und Freundin der Zariza nicht aus dem Gespräch ausschließen wollte.
»Bis jetzt noch gut, doch die schrecklichen Schmerzen kommen oft von einer Sekunde auf die andere. Und dann diese Verfärbungen …« Hofdame Wyrubowa verstummte abrupt. In ihrem runden glänzenden Gesicht zeigte sich ein Anflug von Entsetzen. Ihr war wohl in Erinnerung gekommen, dass die Erkrankung des Thronfolgers nicht thematisiert werden sollte.
Fürstin Chabenski legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. »Njanja Anki ist eine vertrauenswürdige Person, Anna Alexandrowna.«
Die Wyrubowa lächelte Anki unsicher an und rieb nervös mit den Händen über die Stuhllehnen. Ein lautes Poltern aus der Zimmerflucht ließ sie alle aufschauen. Ein wirbelndes weißes Kleid erschien in ihrem Blickfeld, und gleich
Weitere Kostenlose Bücher