Sturmzeit
zumTrost«, begann sie unvermittelt, »der Mensch gedeiht nicht in der Idylle. Es ist ein gesunder Instinkt, der uns dann und wann Sehnsucht nach Wirrnis und Verderben haben läßt.«
Felicia senkte die Augen. Belle drehte sich zu ihr um.
»Danach, zerrissen zu werden«, flüsterte sie geheimnisvoll.
»Ich fahre nach Petrograd«, sagte sie nach einer Weile, in der sich die mittägliche Stille über das Zimmer gesenkt und neue Gedanken geboren hatte, »ich muß mich um Julius kümmern. Es darf nicht passieren, daß niemand mehr nach ihm fragt. Dieses Land ist zu groß, man geht leicht verloren darin.«
Kat hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Nachmittag wenigstens zwei Stunden am Meer spazierenzugehen. In den kleinen Buchten an der Küste floß das Wasser ruhig, und manchmal saß sie auf einem Bootssteg oder einem Stein und träumte über die Wellen hin. Den schnellen, brutalen Wandel in ihrem Leben, der sie erst ins Lazarett, dann in das Lager und schließlich in das brennende Petrograd geführt hatte, konnte sie nicht so schnell verwinden. Mehr und mehr zog sie sich in eine Phantasiewelt zurück, in der es ruhig und friedlich zuging. Dort war der Krieg längst zu Ende, Phillip war gesund zu ihr zurückgekehrt, und das Leben verlief wieder in seinen alten Bahnen. Kat sah alles ganz genau vor sich; hatte sie eine der erdachten Szenen bis zum letzten ausgekostet, stand sie auf und schlenderte weiter, und manchmal nahm sie sogar ihren Hut ab und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
An jenem Morgen, als Tante Belle den Streit mit dem Verwalter hatte, lief sie besonders weit. Zum erstenmal seit langem fühlte sie sich wieder ausgeruht und munter. Sie betrachtete die Welt mit wacheren Sinnen als zuvor. Der Tag war zu schön, um ihn zu verträumen. Aus dem Wald sangen Vögel, zarte, blaßgelbe Stiefmütterchen wuchsen am Wiesenrand; Margeriten, Goldnesseln und Kornblumen blühten.
Das Meer war nie so hell und blau, der Kalkstein an der Küste nie so weiß und leuchtend gewesen.
Kat wollte schon anfangen zu singen - irgendein albernes Lied vom Frühling und Sommer -, als sie bemerkte, daß sie nicht allein war. Zwei junge Männer - kaum älter als sie, siebzehn oder achtzehn vielleicht - kauerten nebeneinander auf einem der Felsbrocken am Wasser. Sie unterhielten sich auf deutsch.
»Ich kann nicht verstehen, daß die deutsche Regierung es zugelassen hat, Lenin durch Deutschland hindurch nach Petrograd zu transportieren. Er ist gefährlich.«
»Für uns, nicht für den Kaiser. Wenn er hier eine Revolution macht, bedeutet das das Ende des Krieges mit Rußland. Ein Gegner weniger.«
»Es wird hoffentlich nicht zu einer weiteren Revolution kommen. Nicht zu einer bolschewistischen.«
»Ich weiß nicht. Ich habe den Eindruck, die Bolschewisten gewinnen an Einfluß.«
»Ach was!« Einer der Männer stand ungeduldig auf. Als er sich umdrehte, erblickte er Kat, die neugierig stehen geblieben war.
»Oh!« Er stieß den anderen Mann an. »Wir haben Besuch!«
Über ein paar Steine hinweg turnten sie ans Ufer und blieben vor Kat stehen. »Wollten Sie zu uns?« fragte der Jüngere. Er hatte blonde Haare und schöne blaue Augen. Kat lächelte ihn an.
»Ich fürchte, ich hab' mich verlaufen. Ich gehöre zur Familie von Oberst von Bergstrom, und ich wollte eigentlich nur drüben bei uns am Strand Spazierengehen, aber nun bin ich wohl zu weit gegangen.«
»Das muß man hin und wieder im Leben tun. Darf ich vorstellen, ich bin Andreas von Randow, und dies ist mein Bruder Nikita. Wir sind gewissermaßen Ihre Nachbarn.«
»Randow? Tante Belle erzählte von Ihnen.«
»Wirklich?«
»Nun ja, eben daß es hier Nachbarn mit diesem Namen gibt.«
»Sagen Sie«, fragte Andreas, »was fangen Sie mit diesem langweiligen Sommer an? Früher war hier viel los, aber seit Kriegsbeginn tut sich nichts mehr. Wir sind schon ganz verzweifelt.«
»Müssen Sie nicht zur Schule?«
»Sporadisch. Die meisten Lehrer sind an der Front. Es lohnt sich nicht.«
Kat lachte. »Und Ihr Vater erlaubt das?«
»Unser Vater ist bei Tannenberg gefallen«, erwiderte Andreas. Einen Moment lang war es still, nur das Meer rauschte, und in den Wipfeln der Kiefern sang leise der Wind. Andreas'und Kats Augen begegneten sich. Es war wie ein intimer Gruß, ein Erkennen.
Andreas sagte: »Hätten Sie Lust, mit uns Tennis zu spielen?
Wir haben einen Tennisplatz in unserem Park.«
»Ich hab' noch nie Tennis gespielt.«
»Sie werden es lernen. Kommen Sie
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