Sturmzeit
mit?«
Kat zögerte eine Sekunde. Bis zum gestrigen Abend hatte jeder Tag, jeder Moment nur Phillip gehört. Aber dieser Junge, dieser Andreas, er war aus Fleisch und Blut. Er war keine Erinnerung, kein schemenhafter Bote aus einer vergangenen Zeit.
Er war wirklich wie das Meer, der Wind, die Sonne.
»Ja«, sagte sie, »ich komme mit.«
Kat kehrte erst spät nach Hause zurück. Sie hatte völlig die Zeit vergessen, und so war die Sonne schon untergegangen, als sie auf das heimatliche Portal zueilte. Über den blaßblauen Abendhimmel schwirrten ein paar Schwalben. Ein feuchter Duftzog vom Park her auf. Alles war friedlich und lebendig. Als Kat das Haus betrat, sah sie Felicia in Begleitung eines älteren Herrn die Treppe herunterkommen. Beide hatten sehr ernste Gesichter. Felicia sah Kat, die mit ihren fliegenden Haaren und roten Wangen einen ungewohnten Anblick bot, zerstreut an. »Ach, Kat. Gut, daß du da bist.«
»Es tut mir leid, daß ich so spät...«, setzte Kat an, aber Felicia unterbrach sie gleich. »Kat, das ist Dr. Calvin. Er war bei Tante Belle. Sie ist heute nachmittag zusammengebrochen.«
»Was?«
»Miliartuberkulose«, erklärte der Doktor, »das bedeutet, Tuberkeln in allen Organen, hauptsächlich natürlich in der Lunge. Die Abwehrkräfte des Körpers sindzusammengebrochen. Die Symptome ähneln dem Typhus. Ich will Ihnen nicht verschweigen, daß die Heilungschancen nicht allzu groß sind.«
Aus Kats Gesicht war alle Farbe gewichen. Sie starrte Felicia an. »Ja, wußtest du, daß sie...«
»Ich wußte, daß sie Tuberkulose hat, ja.«
»Sie gehört in ein Sanatorium«, sagte der Arzt, »in die Schweiz müßte man sie bringen. Im Augenblick ist sie jedoch kaum transportfähig, und der Krieg verkompliziert alles. Ich werde sehen, was ich hier für sie tun kann.«
Er wollte gehen, blieb aber noch einmal stehen. »Ein Rat: Betreten Sie das Zimmer der Kranken nicht ohne Mundschutz. Und so selten wie möglich!« Die Tür fiel hinter ihm zu. Die beiden Frauen blieben zurück, sie sahen einander an. »Es geht ihr sehr schlecht«, sagte Felicia, »und sie quält sich um Onkel Julius. Sie wollte nach Petrograd zurück.«
»Meinst du... sie wird sterben?« flüsterte Kat. Felicia schwieg. Eine Uhr tickte laut, irgendwo lachte eines der Dienstmädchen. Nur noch spärlich floß Licht durch die Fenster, langsam breitete sich die Dunkelheit aus.
»Kat, würdest du es dir zutrauen, hier ein paar Tage allein zurechtzukommen?«
»Allein?«
»Ich muß nach Petrograd. Ich habe das Gefühl, Belles... Seelenheil hängt davon ab. Ich muß sehen, ob ich etwas für Julius tun kann.«
»Was solltest du für ihn tun können?«
Felicias Augen wurden schmal. »Maksim Marakow. Er wird mir helfen.«
»Aber Felicia!« Kat umklammerte den untersten Pfosten des Treppengeländers. »Felicia, du kannst doch nicht nach Petrograd zurück! Nachdem wir es geschafft haben, von dort zu fliehen, willst du wieder alles aufs Spiel setzen!«
»Ich gehe ja nicht in das alte Haus zurück. Nirgendwohin, wo ich verhaftet werden kann. Niemand wird mich beachten. Ich muß das tun, verstehst du? Julius gehört zu meiner Familie.« Sie wollte schon die Treppe hinauf, da fiel ihr noch etwas ein. »Ach sag mal, wo warst du eigentlich den ganzen Tag?«
Trotz allem, Kats Augen leuchteten auf. »Oh, stell dir vor, ich habe...«, fing sie an, doch sie brach ab und biß sich auf die Lippen. Der Zauber des Nachmittags lag noch in ihr, aber er paßte nicht hierher. Sie wollte ihm nicht seinen Glanz nehmen, indem sie ihn dem falschen Ort und der falschen Stunde auslieferte.
»Ich habe einfach einen sehr langen Spaziergang gemacht«, sagte sie unbestimmt.
Die letzten Stufen zur Kellerwohnung hinab taumelte Maksim nur noch. Er konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten, und vor seinen Augen flimmerte es. Zum Teufel mit der Grippe. Im Sommer!
Drinnen setzte er sich sofort. Das Blut pochte dumpf in seinen Ohren. Gerade wollte er fluchen - so häßlich und laut er nurkonnte -, da flog die Tür auf, und Mascha stürmte herein. Sie warf ihre rote Baskenmütze auf den Tisch.
»Die Prawda ist verboten worden! Ich komme gerade aus der Redaktion. Die Regierung hat alles durchsuchen lassen. Wir haben unverzüglich unser Erscheinen einzustellen.«
Maksim bemerkte düster: »Sie versuchen, diebolschewistische Bewegung zu zerschlagen. Wladimir Iljitsch bekam eine Aufforderung, vor der Regierung zu erscheinen und sich aburteilen zu lassen.«
»Und? Er
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