Sturmzeit
geht doch nicht hin?«
»Nein. Er taucht unter. Wir können es uns nicht leisten, gerade Lenin zu verlieren, und für die Regierung wäre es reizvoll, der Angelegenheit mit einer schnellen Kugel ein Ende zu setzen. Willst du eine Zigarette?«
Seine Hände zitterten vor Fieber, als er Mascha Feuer gab. Sie schwang sich auf den Tisch, zog den Rock bis über die Knie hoch und ließ die Beine baumeln. Es war drückend heiß. »Ich tauche auch unter«, sagte sie.
Maksim runzelte die Stirn. »Was ist passiert?«
»Ein Tip von einem Genossen. Gegen mich ist Haftbefehl erlassen worden.«
»Wohin gehst du?«
»Geheim. Aber mit Trotzki abgesprochen.«
»Ah.« Maksim nickte nur. »Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte er dann, »du siehst schlecht aus.«
»Danke. Du auch.«
»Du weißt, wie ich es meine. Du schläfst zu wenig, rauchst zuviel, und... ißt du eigentlich manchmal was?«
Mascha erwiderte seinen Blick voller Spott. »Wie steht es mit dir?«
Maksim strich sich mit der Hand über das Gesicht. Sein Atemging schwer. Seine Wangen waren tief eingesunken, die Lippen grau, die Augen rotumrändert. Er litt unter einer tiefen Erschöpfung, manchmal glaubte er, einfach nichtweiterzukönnen. Er betrachtete die Stadt, in der schon so viel Blut geflossen war, sah, wie die Menschen vor den Geschäften Schlange standen und mit ihren wenigen, immer strenger rationierten Lebensmittelkarten versuchten, wenigstens ein paar Grundnahrungsmittel zu erkämpfen. Zugleich gab es Schieber und Spekulanten, Kaufleute, die Waren zurückhielten, um sie dann für gewaltige Geldsummen zu verkaufen; bei der Plünderung eines Geschäftes durch die hungrige Menge waren ganze Lager von Mehl, Zucker und Butter gefunden worden. Es gab genug Leute, die sich an der Revolution bereits bereichert hatten, ihre Mätressen mit Gold behängten und rauschende Feste mit Strömen von Champagner feierten. Die einen ergingen sich im Wohlleben, die anderen kauerten nächtelang völlig übermüdet auf den Gehsteigen vor den Läden, um am nächsten Morgen unter den ersten zu sein, die eingelassen wurden. Bereicherung, Ausbeutung und Korruption, dachte Maksim bitter, wird das denn niemals abzuschaffen sein?
Der bohrende Schmerz in seinen Schläfen setzte wieder ein. Sein Herz jagte. »Ich glaube, ich...«, sagte er schwach, doch seine Worte verloren sich. Er hatte sagen wollen: Ich glaube, ich habe Fieber. Doch seine Zunge schien ihm heiß und schwer und weigerte sich, andere Laute hervorzubringen als ein undeutliches Murmeln. Die Welt um ihn wurde finster. Das letzte, was er spürte, war der dumpfe Schmerz, mit dem sein Kopf auf der Tischplatte aufschlug.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf seinem Bett, aber der Schwindel, das Hämmern in seinem Kopf hielten an. Mascha stand über ihn gebeugt und flößte ihm Wasser ein. Sanft legte sie ihm ihre kühle Hand auf die glühende Stirn. »Was hast du?«fragte sie.
Maksim versuchte sich aufzusetzen, aber er schaffte es nicht.Erschöpft sank er zurück. »Eine Erkältung«, murmelte er. Mascha verzog das Gesicht. »Eine Erkältung? Mein Lieber, mir sieht das eher nach einer Lungenentzündung aus. Du brauchst einen Arzt.«
»Rede nicht. Das einzige Problem ist...« Maksim versuchte sich zu konzentrieren. Es gelang ihm kaum, seine brennenden Augen offenzuhalten.
»Das einzige Problem ist«, fuhr Mascha fort, »daß ich mich in einer knappen Stunde mit den Leuten treffen muß, die mich aus Petrograd herausbringen. Sie haben gefälschte Papiere und ein Versteck organisiert. Irgendwo weiter im Osten.«
»Du... mußt gehen...«
»Ja!« Mascha warf die Haare zurück und lachte bitter. »Ich muß gehen. Ich kann's nicht riskieren zu bleiben. Aber ich kann dich eigentlich auch nicht allein zurücklassen.«
»Du...«, Maksim suchte mühsam nach Worten. Der ganze Raum drehte sich vor seinen Augen. »Du darfst keine Zeit verlieren, Mascha. Bitte. Es ist...« Seine Zähne schlugen aufeinander, der Schweiß brach ihm aus vor Anstrengung. »Es ist niemandem gedient, wenn... du im Gefängnis sitzt, der Sache nicht und mir nicht.«
Mascha nickte. In ihrem Gesicht kämpften dieverschiedensten Empfindungen miteinander. Plötzlich sagte sie heftig: »Ja, Maksim, ich werde gehen. Ich muß gehen, und ich muß dich im Stich lassen. Aber du hast immer gewußt, daß es so sein würde. Wir können es uns nicht leisten...« Sie brach ab und erhob sich abrupt. »Ich gehe bei Genosse Ilja vorbei. Er soll sich um dich kümmern. Er ist
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