Sturmzeit
Freundin Sara hatte früher manchmal die Theorie vertreten, das Leben eines jedenMenschen sei vorgezeichnet bis in jede einzelne Sekunde seines Daseins hinein. Felicia hatte das immer von sich gewiesen.
»Entsetzlich, diese Idee! Du hättest ja keinen freien Willen mehr!« Jetzt mußte sie wieder daran denken.
Sie stand in Dr. Luchanows Wohnung, am dritten Tag nach ihrer Ankunft in Petrograd, und betrachtete Maksim, sein schmales, vom Fieber ausgezehrtes Gesicht zwischen den Kissen seines Lagers.
Das Schicksal hatte sie geradewegs in das düstere Kellerloch geführt, in dem er lag und auf den Tod wartete, es hatte sie geschickt in einem Moment, da es auf der ganzen Welt keinen Menschen zu geben schien, der bereit gewesen wäre, sich um ihn zu kümmern. Nun konnte sie ihn mit nach Reval nehmen und dort für ihn sorgen.
Sie neigte sich über ihn, durchforschte sachlich und präzise die Züge seines Gesichtes. Sie entdeckte, daß Leidenschaft Enttäuschung gewichen war, Glaube Zweifel, Begeisterung Resignation. Ein völlig neues, müdes Gesicht.
Als sie sich wieder aufrichtete, lächelte sie.
Luchanow hatte herausgefunden, daß man den Oberst nach Osten gebracht hatte, aber er konnte nichts Näheres über sein Schicksal erfahren. »Die Quellen versiegen, sowie man sie anzapft«, sagte er, »aber ich glaube nicht, daß wir uns zu sehr sorgen müssen. Es ist eine bittere Zeit, die überstanden werden muß, aber ich bin fest davon überzeugt, daß Oberst von Bergstrom zurückkehren wird. Wenn sich nicht unsere ganze Welt ändert...«
Felicia hob den Kopf. Sprach er nun auch schon davon, daß sich die Welt ändern würde? Seit 1914 schien niemand von etwas anderem zu reden. »Was meinen Sie?«
»Nun... wir haben eine Revolution hinter uns, wir haben die Monarchie gestürzt, das Zarenreich hat aufgehört zu existieren.
Aber nun entbrennt der Kampf zwischen der Regierung und den Bolschewisten. Die Bolschewisten wollen aus Rußland einen sozialistischen Staat machen, und Sie sehen, mit welcher Härte die Regierung das zu verhindern sucht. Ich fürchte, es wird eine zweite Revolution geben. Einen radikalen Umsturz des Systems. All das, wofür Leute wie Ihr Freund kämpfen. Einen Bürgerkrieg...« Luchanow stockte, hing Augenblicke lang Visionen nach. »Sie und Ihr Freund sollten Petrograd verlassen«, sagte er dann, »vor allem wegen Belle. Wer weiß, wie weit sie den Leuten auf ihrem Gut drüben in Estland noch trauen kann. Wer weiß, welche Stürme uns bevorstehen. Und was diesen Maksim betrifft - lassen Sie ihn nicht aus den Augen!«
Felicia lächelte verlegen, aber Luchanow winkte ab. »Nein, nein, Ihre Gefühle gehen mich nichts an. Ich meinte, Sie sollen ihn nicht aus den Augen lassen, weil er zu den Bolschewiken gehört. Vielleicht brauchen Sie ihn, wenn hier der Flächenbrand beginnt.«
»Wird er die Zugfahrt überstehen?«
»Ich denke schon. Er ist sehr krank, aber zäh. Und noch etwas, Felicia: Sagen Sie Belle doch, ich hätte aus zuverlässiger Quelle erfahren, daß es dem Oberst gutgeht. Sie soll sich nicht aufregen.«
Felicia nickte. Ein Blick des Einverständnisses ging zwischen ihr und dem Arzt hin und her, dann sagte Luchanow zufrieden:
»Sie sind eine undurchschaubare, tapfere kleine Katze, Felicia. Und Sie haben Belles Augen. Wäre ich dreißig Jahre jünger - aber alles im Leben hat seine Zeit. Sie halten durch, nicht wahr?
Und Sie lassen Belle nicht im Stich?«
Felicia nickte und schob das Gefühl, eine allzu schwere Bürde aufgeladen zu bekommen, schnell beiseite. Sie las Anerkennung und Lob in den Augen des Doktors, aber es flößte ihr Unbehagen ein; ihr war ängstlicher zumute, als sie zeigte, und sie hatte nicht den Eindruck, Bewunderung zu verdienen.
7
Tiefhängende Regenwolken verhüllten Wiesen und Wälder am Horizont. Matt und tropfendnaß hing das Laub an den Bäumen, eintönig pladderte der Regen in Pfützen und Bäche. Die Felder waren gelb von der Blüte des Kreuzkrautes, dazwischen leuchtete tief rot der Mohn. Rosen, Hortensien, Fuchsien und die weißen Blüten des Kirschlorbeers wucherten über verschlammter Erde. Gluckernd sammelte sich der Regen in großen Pfützen.
Auf der überdachten Veranda des Gutshauses der Familie Randow saßen Kat, Andreas und Nikita und starrten hinaus in die graue rauschende Wand. Andreas und Nikita trugen ihre weißen Tennishosen und weiße Pullover, hatten ihre Schläger auf dem Schoß liegen und warfen einander gelangweilt einen Tennisball
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