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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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schicken Sommermantel, den sie auf Kredit gekauft hatte, verzog flehentlich das Gesicht. »Bitte! Jurij hat immer für die Revolution gekämpft. Er ist kein schlechter Mensch.«
    »Er hat sich am Volkseigentum bereichert. Er hat damit genau die Politik fortgeführt, die wir gerade beseitigt haben.«
    »Es war das Haus meiner ehemaligen Arbeitgeber, das er ausgeräumt hat. Er tat es aus... Haß und Wut. Diese Leute haben mich jahrelang schikaniert und...«
    »Wir dulden keine Privatbereicherung mehr«, unterbrach Mascha sie hart, »und ganz besonders verwerflich ist es, wenn jemand versucht, die Revolution zu benutzen, um Besitz anzuhäufen. Ich weiß, es geschieht überall. Aber wir gehen unnachsichtig dagegen vor. Um es Ihnen also ganz ehrlich zu sagen«, Mascha stand auf und ging zur Tür, öffnete sie, »selbst wenn ich könnte, ich würde für Ihren Freund nichts tun.«
    Nina wurde blaß. Wortlos ging sie an Mascha vorbei zur Tür hinaus. Dort stieß sie fast mit Maksim zusammen, der rasch zur Seite trat, um sie vorbeizulassen. Dann wandte er sich kopfschüttelnd an Mascha. »Was hat sie denn? Ich dachte schon, sie rennt mich um!«
    »Ihr Freund wurde verhaftet. Übergriffe auf Volkseigentum, verstehst du?« Mascha setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an. »Was gibt's bei dir? Du siehst ein bißchen nervös aus.«
    Maksim warf sich in einen Sessel und strich sich über die dunklen Haare. Es war eine Geste der Erschöpfung. »Es ist nichts«, sagte er, »sie haben bloß gerade wieder 52 Weißgardisten gestellt und standrechtlich erschossen.«
    Mascha zuckte mit den Schultern.
    »Wir sind im Bürgerkrieg.«
    »Ja. Nachdem wir nun glücklich an den Grenzen Frieden geschlossen haben, schlachten wir uns gegenseitig im eigenen Land ab.«
    »Die Revolution...«, begann Mascha, aber Maksim sprang auf und schlug mit der Faust auf den Tisch. Er war blaß geworden vor Wut, und seine Augen blitzten. Hör auf damit, Mascha!, hätte er am liebsten geschrien. Ich kann es nicht mehr hören. Ich sehe mich um in unserem Land, und was ich sehe, läßt mich nachts keinen Schlaf finden. Wir haben Hungersnöte, an denen Tausende sterben, vor allem Kinder. Die Rote Armee hat Massenerschießungen zu verantworten, die Hinrichtungen von Männern und Frauen, die weder einen Anwalt noch ein Verfahren hatten. Als das Volk im vergangenen November die gesetzgebende Versammlung wählte und die Bolschewisten nur ein Viertel der Stimmen bekamen, hat Lenin die Geheimpolizei aus dem Boden gestampft und die Abgeordneten verhaften lassen. Kommissare unserer Partei haben auf Demonstranten geschossen, die dagegen protestierten. Wie kannst du das denn ertragen? Er schrie nicht, aber seine Stimme zitterte vor Zorn, als er leise sagte: »Wie kannst du es ertragen, daß auf Demonstranten geschossen wird? Merkst du denn nicht, daß hier schon wieder der Boden bereitet wird für eine neue Diktatur?«
    »Vorsicht«, sagte Mascha kühl, »die Tür ist offen.«
    Maksim starrte sie an. Er lächelte, zynisch und resigniert.
    »Ja«, sagte er, »die Tür ist offen. Genau das meinte ich. Es ist kein gutes Zeichen, wenn wir anfangen müssen zu flüstern.«
    Ohne eine Erwiderung abzuwarten, verließ er das Zimmer.

    Als Alex erwachte, fiel es ihm schwer, die Orientierung wiederzufinden. Vor seinen Augen war alles dunkel, von fern hörte er das Donnern der Kanonen. Er wollte sich aufrichten, aber ein brennender Schmerz in seinem rechten Oberarm ließ ihn in sein Kissen zurücksinken. Allmählich erkannte er, daß Schwestern an seinem Bett standen und eine von ihnen seinen Puls fühlte. Langsam kehrte sein Erinnerungsvermögen zurück: Eine Kugel hatte ihn getroffen, draußen im Gefecht, als seine Kompanie verzweifelt versuchte, die vorderste Linie der Front zu halten, und dabei merkte, daß die anderen die Stärkeren waren. Er war zusammengebrochen, mit dem Gesicht in den Schmutz gefallen, hatte Staub auf seinen Lippen geschmeckt und warmes Blut seinen Arm hinunter laufen gefühlt. Wer hätte gedacht, daß es mich in diesem dreckigen Krieg tatsächlich noch mal erwischt, war es ihm durch den Kopf geschossen, ehe er das Bewußtsein verlor. Er hatte sich schon für unverletzbar gehalten. Hundertmal hatte er den Tod herausgefordert, hundertmal war ihm dieser eine Gegner ausgewichen. Und diesmal wieder. Denn während nach und nach alle seine fünf Sinne zurückkehrten, begriff er, daß er nicht sterben würde.
    »Sie haben viel Blut

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