Sturmzeit
angelangt, als ein Kellner an ihren Tisch trat und Felicia diskret ans Telefon bat.
»Ein Anruf für Sie, Madame. Die Dame sagt, es sei dringend.«
»Ich komme.« Felicia stand auf. Im Foyer traf sie Nicola und Sergej. Die beiden waren auf dem Weg in die Bar.
»Ach, Nicola, wie stehen die Aktien?« erkundigte sich Felicia, noch im Bann ihrer Geschäfte.
Nicola blickte düster drein. »Mehr als schlecht. Heute war Latein dran, und ich kann nur sagen, es ist unwahrscheinlich, daß ich mehr als einen einzigen Satz richtig übersetzt habe.«
»Du machst das schon«, tröstete Felicia, zerstreut und allzu optimistisch.
Nicolas Miene erhellte sich. »Rate, was wir hier tun, Felicia!
Ich meine, was wir jetzt gleich feiern werden!«
»Keine Ahnung. Das Leben als solches?«
»Nein. Unsere Verlobung. Sergej und ich werden heiraten.«
Sergej grinste dümmlich, und Felicia fragte sich, ob man Nicola dieses Vorhaben noch werde ausreden können.
»Wie... schön, Nicola. Meinen Glückwunsch, Sergej. Wir reden noch mal darüber, ja? Ich muß jetzt telefonieren.« Noch in Gedanken versunken nahm sie den Hörer auf. »Felicia Lavergne.«
»Felicia?« Es war Laetitias Stimme.
»Großmutter! Wie schön, daß du mich anrufst! Aber du klingst so komisch. Liegt das am Telefon, oder ist etwas passiert?«
»Felicia, du mußt sofort hierher kommen. Sofort, hörst du? Es ist Benjamin, er...«
»Ja, um Himmels willen, was hat er denn?«
»Felicia, Kind, es tut mir so leid, wir haben es auch gerade erst erfahren... er hat sich erschossen. Benjamin hat sich erschossen.«
Felicia starrte den Telefonhörer an, als hielte sie ihn für einen bösen Geist. Hinter ihr schwirrten Stimmen; Satzfetzen, Gelächter, Rufe wehten durch das hellerleuchtete Foyer. Seidenkleider, Parfüm, Gläserklingen - ihre ganze Welt tanzte dort hinter ihr vorbei und entglitt ihr zugleich, wurde fremd und fern.
»Felicia! Bist du noch da?«
»Ja, Großmutter. Ich hab' alles verstanden. Ich komme so schnell wie möglich.« Sie legte auf, wandte sich schwerfällig um und sah in Nicolas strahlendes, junges Gesicht.
»Eine Nachricht von Benjamin, Felicia? Ich hatte ganz vergessen, dich zu fragen, ob er dich eigentlich noch gefunden hat gestern?«
Felicia brachte kaum die Lippen auseinander. »Wie?«
»Er war in Berlin. Wegen... o Gott, Felicia, es ist doch nichts mit Belle? Ich hatte ihm Maksim Marakows Adresse gegeben, weil... o Sergej, halt sie bloß fest! Ich glaube, sie fällt um!«
Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie krank, zerbrochen, müde, am Ende ihrer Kräfte. Sie konnte nicht weiter; alle Gedanken, alle Wünsche, alle Pläne endeten an Benjamins Grab auf dem Familienfriedhof von Skollna.
Sie wußte später kaum, wie sie das Begräbnis durchgestanden hatte. Die ganze Zeit über hörte sie Elsa leise weinen und Victor lautstark schniefen, denn er war erkältet und hatte sein Taschentuch daheim vergessen. Gertrud trug einen schwarzen Wollhut und kondolierte Felicia ununterbrochen, und Modeste strahlte ihre übliche Selbstgefälligkeit aus, drückte die Hand ihres Verlobten und betrachtete ihre Cousine voller Mitleid. Als sich der Tag seinem Ende zuneigte, als die Sonne untergegangen war und die Vögel lauter durch die klare, kühle Abendluft zwitscherten, als Belle und Susanne verweint, verwirrt und völlig überdreht in ihren Betten lagen, da konnte sich auch Felicia endlich zurückziehen, und die alptraumhafte Entrücktheit, in der sie den Tag verbracht hatte, machte glasklarer Verzweiflung Platz. Sie hatte sich in das Zimmer der verstorbenen Susanne Lavergne begeben, jenes Zimmer, in dem auch Benjamin seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Mit Nachdruck schloß sie die Tür hinter sich. Sie wußte, wenn jetzt jemand käme, mit ihr zu sprechen, sie würde schreien. Besonders, wenn es Minerva wäre, die zum hundertsten Mal von jenem schrecklichen Moment berichtete, als sie den toten Benjamin gefunden hatte. »Stellen Sie sich vor, es ist Abend, und ich bin unten im Haus und gieße die Blumen, ich denke natürlich an nichts Böses, nicht wahr? Und plötzlich kracht der Schuß. Ich bin so erschrocken, ich hab' gleich die Gießkanne fallen lassen und hab' um Hilfe gerufen. Es ist aber niemand gekommen, und da bin ich die Treppe hochgelaufen. Ich hab'gleich gedacht, daß der Schuß aus dem Zimmer von der seligen gnädigen Frau kommt, und wie ich da rein bin - nein, Jesus, hab'ich mich erschrocken! Da liegt der gnädige Herr am Boden und neben ihm
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