Sturmzeit
Blut.
»Jetzt hab' ich mich auch noch geschnitten. Es ist wirklich...«
Das Blut kam in dicken Tropfen. Phillip kniete neben ihr nieder und wickelte sein Taschentuch um den Finger. Es weichte in Sekundenschnelle durch, und Felicia wurde weiß um die Nase. »Jetzt sieh dir das an. Wie kann man so bluten von einer einzigen Scherbe! Wie kann man nur so bluten!«
In ihrer Stimme schwang Hysterie. Phillip zog ein zweites Taschentuch hervor und schlang es um das erste. »Nur nicht aufregen«, sagte er beruhigend, »das hört gleich auf.«
Sie hockten nebeneinander und betrachteten den verwundeten Finger. In Phillips Büro brannte nur eine einzige Lampe, was den Raum warm und gemütlich machte. Keiner sagte mehr etwas. Felicia lauschte dem Pochen ihres Herzens, das sich heiß und hämmernd in ihrem Finger fortsetzte, und sah Phillip an, sein angespanntes Gesicht, seine ersten grauen Haare über der Stirn. Auch ihm zerrann heute alles unter den Händen, die Tragödie der Wallstreet war auch seine Tragödie, wie die von Tausenden von Menschen. Auch ihre. Alles, alles hatte sie investiert. Was sie auch besaß, es war belastet. Sie würde es verlieren. Ihr ganzes Vermögen würde sie verlieren, und sie mußte hilflos dabei zusehen.
»Jetzt ist es aus«, sagte sie.
Phillip hob den Kopf. Seine Lippen waren so angespannt, daß sich eine weiße Linie um sie herum abzeichnete.
»Es ist deine Schuld, Phillip, du hast mich auf dem Gewissen. Du hast...«
In seinen Augen glühte Zorn. »Streiten wir lieber nicht darum, wer wen auf dem Gewissen hat. Reden wir vielleicht am besten gar nicht von Gewissen!«
Sie vergaß ihren Finger. Angriffslustig wie eine gereizte Katze fauchte sie: »Du hast mich immer gehaßt! Seit deiner Rückkehr aus Frankreich hast du mich gehaßt. Du hast getan, was du nur konntest, um mich dahin zu bringen, wo ich nun bin!«
Sein Gesicht wurde noch blasser. Zum ersten Mal in all den Jahren fiel die steinerne Maske; zum Vorschein kamen verletzte, gequälte Züge. »Ja«, sagte er heftig, »ja, ich hab' dich gehaßt. Vielleicht hasse ich dich noch immer, vielleicht werde ich es mein Leben lang tun. Aber ich habe dich nicht absichtlich ruiniert. Wenn dies hier Rache ist, dann eine des Schicksals. Nicht meine.«
Seine letzten Worte klangen sanft, und das entwaffnete sie. Auf einmal schämte sie sich ihrer Anklage. Weiß Gott, Phillip hätte jedes Recht gehabt, ihr in den letzten Jahren anders zu begegnen, als er es getan hatte. Sie sah ihn an und erkannte seine Wehrlosigkeit.
Sacht berührte sie seinen Arm. »Entschuldige bitte. Ich war sehr ungerecht. Ich hab' mich nur plötzlich so allein und hilflos gefühlt. Seit Benjamins Tod fühle ich mich allein. Seltsam, nicht? Ich habe so gut wie überhaupt nicht mit ihm gelebt, aber jetzt ist mir klar, daß er immer hinter mir stand, und so schwach er auch war, er war der Mensch, der immer zu mir gehalten hätte. Mir ist niemand geblieben, nur mein Geld. Und das...« sie lachte hilflos, und nur, um nicht zu weinen, »das ist jetzt auch dahin.«
»Maksim Marakow ist zurückgegangen nach Leningrad?«
»Ja. Zu Mascha Laskin.«
Sie sahen einander an, seufzten beide und versuchten über die Jahre zurückzublicken zu jener Zeit, als sie jung genug gewesen waren, an Niederlagen nicht zu glauben.
»Führst du das Büro weiter?« fragte Felicia.
Phillip schüttelte den Kopf. »Ich bin ruiniert. Ich hoffe, irgendwie meine Schulden ausgleichen zu können. Und dann... wahrscheinlich verlasse ich Deutschland.«
»Wohin?«
»Nach Frankreich. Was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, wenn man bedenkt, daß ich dort in den Schützengräben lag und mein Bein verloren habe. Aber ich hätte immer dort bleiben sollen.« Er schaute auf Felicias Finger. »Es hat aufgehört zu bluten«, stellte er fest.
Felicia stand auf und half auch Phillip auf die Beine. Er hielt ihre Hand fest. »Was tust du als nächstes, Felicia?«
»Ich fahre nach München. Ich muß mit Wolff reden und wahrscheinlich verhindern, daß er sich in die Isar stürzt. Im übrigen«, sie rang sich ein Lächeln ab, »mach dir keine Sorgen um mich. Irgendwie falle ich schon auf die Füße.«
Elsa blickte völlig ratlos drein. »Ich fürchte, ich kann euch nicht helfen. Meine Ersparnisse könnt ihr haben, aber die werden euch wenig nützen.«
»Kaum«, sagte Sergej gereizt. Sein weißer Anzug hing zerknittert an ihm herunter, sein betörendes Lächeln war erloschen. Ohne sein übliches Strahlen bekamen seine
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