Sturmzeit
mit denen sie das allzu helle Tageslicht aussperrte. Gedämpft fiel die Sonne ins Zimmer, schwach klangen die Straßengeräusche herauf. Er konnte den Duft von Elsas Parfüm riechen.
Arme Mama, dachte er. Ihr Bild verschwamm. Er war wieder in Frankreich, irgendwo an der Aisne, in einem kleinen, von Granaten zerbombten Dorf, und spürte ein beißendes Hungergefühl im Magen. Der Hunger war beinahe schlimmer als die Müdigkeit. In der vergangenen Nacht hatte es ein kurzes Gefecht mit den Franzosen gegeben, aber sonst war alles ruhig geblieben, und die wachehaltenden Soldaten hatten erbittert mit dem Schlaf ringen müssen. Die eigentlichen Feinde derDeutschen in diesem Sommer 1915, als sich die Front um keinen Schritt bewegte, schienen Johannes der Hunger, die Läuse und die Ruhr zu sein. Die Versorgungsprobleme der Armee wurden jeden Tag offensichtlicher, und es gab kaum einen Soldaten, der seine Eingeweide nicht zum Teufel gewünscht hätte.
Irgendwo mußten gerade eine Menge Schweinenotgeschlachtet worden sein, weil die Bauern sie offenbar nicht mehr füttern konnten; vor acht Tagen jedenfalls hatte es für jeden Schweinefleisch gegeben, soviel er nur wollte. Johannes hatte den Hunger wohlweislich vorgezogen, aber die anderen verschlangen, was sie nur erwischen konnten. Die ungewohnte Fettzufuhr brachte sie fast um. Die Kompanie kotzte eine Nacht lang; mit grauen Gesichtern, schweißnassen Nasen und zitternden Lippen gaben es die Männer auf, sich einen Rest von Würde bewahren zu wollen.
Johannes, der Stunde um Stunde einen Kameraden in den Armen gehalten hatte, der bis zur vollkommenen Erschöpfung erbrechen mußte und ohne fremde Hilfe nicht stehen konnte, fragte sich, ob Christian wußte, was ihn an der Front erwartete. Konnte er sich vorstellen, wie zermürbt die »Helden« nach einem Jahr Krieg waren, wie müde und ausgebrannt und leer. Sie hatten einen eisigkalten Winter lang in den Schützengräben ausgehalten, und sie hatten gesehen, wie ganze Reihen von Menschen im Kugelhagel zusammenbrachen.
Johannes konnte sich nicht erinnern, jemals Begeisterung für den Krieg empfunden zu haben.
Er hatte stets einen leisen Schauder gespürt, wenn andere um ihn herum mit Begeisterung vom Kämpfen sprachen. Alles in ihm lehnte sich dagegen auf. Besonders, wenn er sich an seine Kindheitssommer auf Lulinn erinnerte (mitten im wildesten Gefecht sah er die Eichenallee vor sich oder hörte das Wiehern der Pferde am frühen Morgen) oder wenn er an seine Mutter dachte und an Linda. Und an das Kind.
Linda hatte ihm die Neuigkeit von ihrer Schwangerschaft derart kompliziert und verschlüsselt mitgeteilt, daß er Stunden gebraucht hatte, um zu enträtseln, was sie eigentlich meinte. Seitdem er es wußte, hatten sich sein Zorn auf den Krieg und seine Entschlossenheit, ihn zu überleben, noch um ein Hundertfaches verstärkt. Aber das Leben würde nicht dort weitergehen, wo es im August 1914 stehengeblieben und dann in diesen irrsinnigen, atemberaubenden, tödlichen Strudel geraten war, nichts würde sein, wie es gewesen war. Auch nicht für Christian, dachte Johannes ahnungsvoll, keinen Fisch kann er töten, aber nach Westen wird er fahren wie in das größte Abenteuer seines Lebens, angefüllt mit den Worten seiner Lehrer von Pflicht und Schuldigkeit und Ehre und preußischer Tradition... aber von den Lazaretten weiß er nichts und von den Schreien der Verwundeten, von der Ruhr und dem Hunger, von dem kalten Schlamm der Schützengräben...
»Nun, Degnelly, wie geht's?« Ein Freund von Johannes aus der Kadettenschule, dessen linkes Auge seit einem halben Jahr ununterbrochen nervös zuckte, trat heran, zog ein Taschentuch hervor und wischte sich über das erhitzte Gesicht. »Guter Gott, ist das warm heute! Ich war gerade im Lazarett. Da drinnen hältst du es nicht aus. Da wird man ja nur noch kränker.«
»Haben Sie Phillip gesehen?« erkundigte sich Johannes. Phillip litt seit beinahe drei Wochen an einem unerklärlichen Fieber, und Johannes hatte sich große Sorgen um ihn gemacht.
»Es geht ihm besser. Aber er sieht natürlich zum Gotterbarmen aus. Trotzdem hat er verdammt viel Glück: Sie schicken ihn für vierzehn Tage auf Urlaub.«
»Er fährt nach Berlin?«
»Nach München. Zu seiner Schwester. Sind Sie nicht mit ihr verheiratet?«
»Doch«, sagte Johannes. Er kramte einen Stift und ein Stück Papier hervor. »Ich werde ihm einen Brief für sie mitgeben.«
Während er sich ein paar heitere, zuversichtliche Sätze
Weitere Kostenlose Bücher