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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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ihr vernahm. Widerwillig drehte er sich um. Sie stand mitten in dem düsteren Zimmer, umbauscht von dem duftigen Kleid, aber trotz ihrer Eleganz sah sie auf einmal sehr jung und verletzbar aus, ganz anders, als er sie gekannt hatte, sie war nicht die strahlende, lebhafte Felicia, die auf dem zugefrorenen See im Berliner Tiergarten Schlittschuh lief und ganze Trauben von Männern um sich versammelte, nicht die wilde, lustige Felicia, die auf ihrem Pferd über die ostpreußischen Wiesen galoppierte, sich lachend die Haare aus dem Gesicht strich und dann die nackten Füße in das klare Wasser eines Baches tauchte. Felicia, das Kind mit seinen ungezählten Ansprüchen, seinen verwöhnten Launen, gab es nicht mehr. Für Augenblicke konnte Maksim eine Frau entdecken, von deren Vorhandensein er bislang nichts geahnt hatte. Er fühlte sich seltsam verwirrt und hatte den Eindruck, als regten sich Gedanken und Wünsche in ihm, von denen er um keinen Preis wollte, daß sie allzu wach wurden. Er hatte Felicias Schönheit stets gelassen Widerstand leisten können, weil seine Verachtung für all das, was sierepräsentierte, seine Empfänglichkeit für weibliche Reize überwog. Mit leisem Schrecken stellte er fest, daß es Felicia gelingen könnte, Risse in seine Mauer der Abwehr zu treiben. Doch Felicia, von diesen Gedanken nichts ahnend, trug bereits wieder ihr vielerprobtes kokettes Lächeln auf dem Gesicht, und auch Maksim mußte unwillkürlich lächeln. Im Grunde war sie doch ein Kind.
    »Willst du mir nicht einmal einen Kuß zum Abschied geben?«fragte sie.
    Maksim zögerte, aber er fühlte eine Verpflichtung, ihrer Bitte nachzukommen. Er trat auf sie zu, neigte sich zu ihr hin und küßte mit kühlen Lippen ihre Wangen. Sie hob die Arme, schlang sie um seinen Hals und zog ihn an sich. Ihre Lippen trafen auf seine, so verzweifelt, daß es ihn schauderte. Auf einmal, ohne daß er es gewollt hatte, ohne daß er etwas tun konnte, war er ein anderer, und die Welt verwandelte sich mit ihm. Es gab keinen Krieg, keine Toten, keine Lazarettzüge; es gab keine Armut, keine Unterdrückung und keine Ausbeutung. Er mußte nicht kämpfen, um die Welt zu ändern, denn sie war gut, wie sie war. Er brauchte nicht länger Idealen nachzulaufen, nicht zu streiten, zu reden und zu überzeugen. Er konnte sich Felicias Umarmung hingeben, der Umarmung einer Frau, die stark war und sicher und in der er seine Vergangenheit und seine Sehnsucht wiederfand - all das, was sie geteilt hatten und wovon Mascha nichts wußte, die Sommer von Lulinn, die stillen, langen, heißen Tage, in denen das wirkliche Leben fern schien und die Gegenwart ein Traum war, erfüllt von nichts anderem als dem Summen der Bienen, dem tiefen, dunklen Blau des Rittersporns am Wegrand, dem sanften Wind, der den Geruch von warmem Harz aus den Wäldern über die Wiesen trug.
    »Alex hat mir nie etwas bedeutet«, sagte sie hastig, so schnell, als habe sie Angst, ihr bliebe keine Zeit, alles zu sagen, was siesagen wollte, »es war nur...«
    »Sei doch still. Bitte, Felicia!«
    »Ich habe so sehr darunter gelitten, daß du immer so abweisend warst, so kalt und so... verächtlich. Ich wußte nicht, was ich falsch mache oder was...«
    »Hör auf, Felicia!«
    »Wenn du willst, verlasse ich Alex noch heute...« Sie sah, wie sich sein Gesicht veränderte, wie es einen erschrockenen, beinahe entsetzten Ausdruck annahm. »Ich habe Alex nur geheiratet, weil ich so eifersüchtig auf Mascha war, aber die ganze Zeit habe ich...«
    »Sei still! Herrgott noch mal, sei still!« Seine Stimme zitterte vor Wut. Er packte sie grob an den Schultern und schüttelte sie.
    »Halt den Mund, sag ich!«
    Sie hatte in ihrer Besessenheit den Luftzug nicht gespürt, der ins Zimmer drang, aber jetzt, da sie erstarrt und plötzlich ernüchtert innehielt, gewahrte sie die kaum merkliche Veränderung, die mit dem Raum, in dem sie sich befanden, vor sich gegangen war. Er hatte seine Atmosphäre fern ab von aller Welt verloren. Langsam drehte sie sich um.
    In der geöffneten Tür stand Alex, kalkweiß im Gesicht. Dahinter Phillip, der noch immer mit seinem wichtigen Anliegen herumlief und offenbar kaum begriff, was er eben gehört hatte.
    Von einem Kirchturm schlug es Mitternacht. Im Ballsaal wurde es still, Stühle rückten, dann setzte die Kapelle feierlich mit der Kaiserhymne ein, und alle Gäste sangen dazu. Clara Carvellis unreiner Sopran übertönte die anderen, und in Felicias Erinnerung verband sich diese Nacht

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