Sturmzeit
mir gar nicht, Kind«, sagte er besorgt, »so blutleere Lippen und so schmale Wangen! Sie sahen besser aus vor einem Jahr, als Sie hierherkamen!«
Vor einem Jahr! War es tatsächlich schon ein Jahr her, seitdem sie Berlin verlassen hatte? So viele sinnlose, leere Monate...
»Mehr Vitamine essen«, brummte der Arzt, »und nicht so viel grübeln, hören Sie? Ein Baby wäre das richtige für Sie, das würde Sie auf andere Gedanken bringen.«
Gerade in diesem Augenblick tauchte Alex im Gang auf. Er trug einen hellen Anzug, der etwas zerknittert wirkte, und hatte seine Krawatte nur locker umgebunden. In der Hand hielt er seinen weißen Hut. Um Mund und Kinn lag der dunkle Schatteneines drei Tage alten Bartes, und er roch etwas zu aufdringlich nach einem teuren, äußerst provokanten Rasierwasser.
»Ach Doktor«, sagte er. Seine Worte kamen klar, offenbar hatte er an diesem Tag wenigstens nichts getrunken. »Was machen Sie denn hier? Jemand krank?« Er schaute von einem zum anderen.
»Weshalb steht ihr alle auf diesem Gang herum? Gibt es hier heute noch etwas zu sehen?«
»Linda hat ihr Baby bekommen«, erklärte Felicia, »es ist ein Junge.«
»Oh... welch freudiges Ereignis! Ein Junge? Ein neuer tapferer Krieger. Da können die Eltern aber stolz sein. Man sollte es dem glücklichen Vater gleich schreiben, damit er da draußen wenigstens weiß, wofür er Leib und Leben riskiert!« Er lachte und schien die allseits erschrockenen Gesichter zu genießen. »Na, was ist? Wollen wir nicht alle einen Schluck trinken auf den neuen Erdenbürger?«
»Ich habe noch einen wichtigen Termin«, sagte der Arzt rasch, »entschuldigen Sie mich, Alex.«
»Selbstverständlich. Selbstverständlich entschuldige ich Sie. Was ist mit euch anderen? Kat, du bist in den Schnaps doch beinahe ebenso verliebt wie in deinen Phillip, stimmt's? Also zier dich jetzt nicht!«
»Ich muß mich um Linda kümmern«, entgegnete Kat, und Sara schloß sich sofort an. »Ich mich auch. Verzeihen Sie bitte.«
Alex machte eine übertriebene Verbeugung, bei der er mit seinem weißen Hut beinahe den Fußboden fegte. »Ich verzeihe alles. Es gibt kaum einen Menschen, der so viel verzeiht wie ich! Geht hin und haltet der jungen Mutter die Hand! Überbringt ihr meine besten Wünsche - ich selbst bin wohl in diesem Augenblick am heiligen Lager nicht erwünscht!«
Kat und Sara beeilten sich, dem Gespräch zu entkommen, undöffneten die Tür zu Lindas Zimmer. Felicia wandte sich wortlos ab, um ihnen zu folgen, doch Alex hob blitzschnell die Hand und packte ihren Arm, so hart und schmerzhaft, daß sie nur mühsam einen Schrei unterdrückte.
»Du bleibst«, bestimmte er, »mit dir will ich jetzt reden!«
»Laß mich! Linda braucht mich jetzt!«
»Linda hat mehr als genug Beistand. Und außerdem hat es dich, solange du lebst, nicht gekümmert, ob dich vielleicht jemand brauchen könnte. Also bitte, mein Herz, gewöhn dir keinen falschen Zungenschlag an!«
»Und du«, gab sie kalt und leise zurück, »wähle bitte einen anderen Ton, wenn du mit mir sprichst.«
»Oh, ich wüßte tatsächlich einen anderen Ton, und den würdest du zweifellos am besten verstehen. Ich nehme mich nur mit Rücksicht auf Sara und Kat, die uns so fasziniert zuhören, zusammen, Liebling!«
Sara und Kat, die seine Spitze nicht überhört hatten, verschwanden endgültig. Sie wußten nicht, was zwischen Felicia und Alex vorgefallen war, und es schien ihnen ratsam, keine Fragen zu stellen.
Alex ließ Felicias Arm nicht los, während er sie den Gang entlangzerrte und grob in ein Nebenzimmer zog. Die Tür fiel schmetternd hinter ihnen zu. Er gab Felicia so plötzlich frei, daßsie taumelte. Haltsuchend griff sie nach der Lehne eines Sessels. Sie richtete sich auf und strich ihren Rock glatt. »Also, worüber willst du mit mir sprechen?« fragte sie kühl. Alex lächelte, aber in seinen Augen stand keine Wärme. Auf einmal fürchtete sie sich. Sie erkannte, daß er außer sich war vor Wut; zorniger und gereizter, als sie ihn je erlebt hatte. Der Alkohol nahm ihm stets die äußerste Spitze der Feindseligkeit und ließihn über sich und die Welt lachen.
Jetzt aber war sein Lachen grausam, durch nichts gemildert.Und er war ihr ebenbürtig.
Er war nicht betrunken, er war hellwach, angespannt - und gefährlich. Sie konnte spüren, daß er sich nur mühsam beherrschte. Sein Lächeln war nicht wie sonst Ausdruck des amüsierten Spotts, mit dem er sich über seine eigenen Empfindungen lustig
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