Sturz Der Engel
an Siret und das Kind mit dem silbernen Haar, an den Turm, in dem es nicht genug zu essen gab, an Gerlichs untypisches Schweigen, an Ayrlyns Wärme.
Er trank den Tee, der inzwischen kalt geworden war, ohne dass er es bemerkt hatte.
LXVI
A uf dem Weg in den obersten Stock des Turms blieb Nylan kurz stehen und forschte mit Augen und Sinnen, was in den Quartieren der Marineinfanteristinnen vor sich ging. Dort in der Dunkelheit hatte eine Wächterin mit silbernem Haar ihre kleine Tochter angelegt und wiegte sie langsam im Schaukelstuhl, den Nylan zusammen mit den anderen Wächterinnen gebaut hatte.
»Schlaf nur, kleine Kyalynn, schlafe mein kleiner Engel …« Sirets Stimme war leise und beruhigend. Anscheinend störten sich die anderen Wächterinnen, die auf der gleichen Etage schliefen, nicht daran. Die Liegen standen ringsum im Raum verteilt und wurden durch Trennwände voneinander abgeschirmt, die viele nicht nur selbst hergestellt, sondern auch geschmückt hatten.
Einige Wächterinnen waren noch wach.
Nylan konnte sehen, wie eine andere silberhaarige Marineinfanteristin – Istril, die inzwischen einen dicken Bauch bekommen hatte – trotz der Dunkelheit in seine Richtung starrte.
Konnte sie im Dunkeln sehen wie er selbst? War diese Fähigkeit durch den Unterraumsprung bei genau denen entstanden, die silberne Haare bekommen hatten? Wie viele frühere Marineinfanteristinnen mochten eigenartige Begabungen besitzen wie er und Ryba? Begabungen, über die sie kein Wort verloren?
Nylan wusste es nicht, weil er nie über diese Fähigkeit gesprochen hatte. Ryba hatte es allerdings erraten oder aus ihren eigenartigen, bruchstückhaften Visionen entnommen. Sein Blick wanderte wieder zu Siret. Er konnte die zärtlichen Worte der jungen Mutter hören.
»Schlafe, mein Engel, und weine nicht, die Mutter wacht an der Wiege mit einem Licht …«
Nylan schluckte. Er kannte das Kinderlied nur in der Version ›… der Vater wacht an der Wiege‹. Aber er hatte das Gefühl, dass Väter in Rybas Vorstellung von dem, was aus Westwind werden sollte, keine große Rolle spielten.
Er wusste nicht, wie lange er lauschte, aber nach einer Weile spürte er, dass Kyalynn und Dephnay ebenso tief schliefen wie ihre Mütter. Seine Füße waren kalt, als er sich auf die zusammengeschobenen Liegen im obersten Stock legte.
»Wo warst du?«, flüsterte Ryba.
»Ich war auf dem Klo.«
»So lange?«
»Ich … ich bin ins Badehaus gegangen. Das ist etwas … abgeschiedener.« Es war ihm peinlich, aber der Hammel, den sie am Abend vorher gegessen hatten, war seinem Verdauungssystem nicht zuträglich gewesen. »Der Hammel …«
»Oh … ich verstehe.«
»Und dann bin ich stehen geblieben und habe gehört, wie Siret für ihre Tochter gesungen hat. Irgendwie … ich habe mir noch gar nicht richtig bewusst gemacht, dass sie jetzt eine Mutter ist. Man sieht sie so kriegerisch mit den Schwertern kämpfen und sie sind …« Nylan hielt inne und suchte nach den richtigen Worten.
»Sie sind so gut im Töten?«
»Nein. Ich weiß nicht. Es hat mich berührt, das ist alles. Ich weiß nicht einmal warum. Dabei kenne ich sie kaum. Ich habe nur ein wenig bei der Geburt geholfen.«
Ein Schaudern lief durch Rybas Körper.
»Ist dir kalt?« Er wollte sie in den Arm nehmen, aber ihre Schultern und der Körper waren trotz der Kälte, die im Turm herrschte, recht warm. Der runde Bauch, in dem Dyliess steckte, machte es ihm schwer, sie zu halten und das Zittern zu lindern.
Schließlich drehte sie sich weg, ohne ein Wort zu sagen. Bis sie einschliefen, er den Arm auf ihre Schulter gelegt, sagte Ryba kein Wort mehr, aber das Zittern – ein lautloses Schluchzen vielleicht – ebbte nach einer Weile ab.
LXVII
S onnenlicht fiel durchs geöffnete schmale Fenster des Turms. Gleichzeitig strich ein kalter Wind herein, ließ die Vorhänge wehen und rüttelte an der dünnen Tür, die das Wohnquartier der Marschallin abschirmte.
»Mit dem Essen kommen wir jetzt zurecht«, erklärte Ryba. »Der Schnee schmilzt allmählich und es wird nicht mehr lange dauern, bis Ayrlyn losziehen und Lebensmittel eintauschen kann.«
»Ja, es wird wärmer«, stimmte Nylan zu. »Ich hoffe nur, wir können uns darauf verlassen, dass es auch so bleibt.« Er lugte aus dem schmalen Fenster und musste im hellen Licht blinzeln. Draußen lag noch eine weiße Decke über dem Land, aber westlich des Turmes ragten schon einige dunkle Felsen hervor.
»Ein oder zwei Stürme werden
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