Sturz Der Engel
die in dieser unterentwickelten Kultur unvermeidlich waren?
Er überquerte die Zufahrt, blieb vor der Tür des Turmes stehen und dachte an die Kinder und ihre Mütter im großen Saal. Er wollte jetzt keine Gesellschaft haben, zumal drei der vier Kinder seine eigenen waren. Er würde sich verpflichtet fühlen, zu jedem einen Kommentar abzugeben, mit jedem zu spielen und ihnen womöglich noch etwas vorzusingen. Gelegentlich ließ er sich sogar darauf ein, denn irgendwie hatte er letzten Endes mit sich Frieden geschlossen, wenngleich nicht mit Ryba. Ihre Selbstherrlichkeit brachte ihn immer noch zum Kochen, aber das war nicht die Schuld seiner Kinder. Wie auch immer, heute Morgen war er für Kinder jedenfalls nicht zu haben.
Ihre Mütter haben keine Wahl. Er schürzte die Lippen, überlegte einen Augenblick und ging in die geschützte Ecke zwischen dem Badehaus und der Außenmauer des Turms. Er wollte einfach nur allein sein.
Aber es war ihm nicht vergönnt. Als Nylan sich der Ecke des Turms näherte, hörte er die Lutar. Er blieb stehen, lauschte und erkannte Ayrlyns klare Stimme.
Ein starker Schmied war Nylan und ein Magier auch
Wie ein Blitz sein Hammer auf den Amboss kracht’
In den Bergen schuf er Klingen für die Engelsgarde
Mit ihnen behaupteten die Engel ihre Macht.
Ein großer Magier war er und ein starker Schmied obendrein
Mit einer Klinge wie ein Blitz hat er erbaut den Turm.
Der Schwarze Turm steht felsenfest am Berg
Und trotzt dem Schnee und jedem Wintersturm.
Als das Lied zu Ende war, umrundete Nylan die Ecke und sah Ayrlyn an, die am Graben auf einem Stein saß.
»Das ist entsetzlich«, murmelte Nylan. »Einfach entsetzlich.«
»Wer war es noch gleich, der mir gesagt hat, dass die Lieder, an die sich die Menschen erinnern und die sie gern singen, immer entsetzlich wären?«
»Da gab es noch nicht einmal Lieder, die von mir handeln.«
»Spielt das denn eine Rolle?«, fragte die Heilerin.
Nylan setzte sich neben ihr auf den Boden. Seine Füße und Beine waren müde, dabei war es noch nicht einmal Mittag.
»Machst du immer noch Pfeilspitzen?«
Er nickte. »Ich wünschte, ich könnte die Kohlen heiß genug bekommen, um das Metall zu schmelzen, damit ich sie gießen kann. Dazu würde ich frisches Hartholz brauchen, doch wenn ich es nehme, verbrennt das Metall, und anfeuchten kann ich es natürlich nicht. Wenn ich nur Holzkohle nehme, wird das Feuer gerade heiß genug, dass ich das Metall schneiden kann. Manche dieser Pfeilspitzen werden die Leute, die sie treffen, einfach zerfetzen.«
»Ist das nicht genau das, was sie tun sollen?«
»Schon, aber ich habe immer noch Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass so viele Leute sich allein der Gewalt beugen.«
»Das ist auf diesem Planeten hier besonders wahr.«
»Es ist überall wahr, aber in einer hoch technisierten Gesellschaft kann man es leichter übersehen. Im Energienetz siehst du einen Deenergetisator und einen Spiegelturm und paff! ist der Turm verschwunden. Du siehst nicht, wie die Dämonen sterben. Wenn jemand einen Mord begeht, dann schaffen die Behörden ihn fort und er wird irgendwo mit einem Laser in Staub verwandelt. Hier dagegen ist es unübersehbar und das Sterben geht langsam. Ich fühle mich immer schlechter damit.« Er wandte sich an Ayrlyn. »Du wohl auch, nehme ich an.«
»Manchmal wird mir so übel, dass ich mich wieder und wieder übergeben könnte.« Sie schlug den Blick nieder. »Ich fühle mich so … so schwach. Ich sage mir, dass es an meinem eigenen Bewusstsein liegen muss, aber die Reaktion kommt so unvermittelt und ist so körperlich …«
»Für mich ist es wie ein rasender Kopfschmerz. Bei den letzten paar Gelegenheiten war es so heftig, dass ich einige Augenblicke lang nichts mehr sehen konnte.«
»Das sind Reaktionen, die in einer gewalttätigen Kultur dem Überleben eher abträglich sind«, bemerkte Ayrlyn trocken.
»Es kommt noch schlimmer, weil Ryba die Dinge verändert, und Veränderungen beruhen normalerweise auf Gewalt.«
»Wir sind ein Teil dieser Veränderungen«, sagte Ayrlyn, »darum kommen wir nicht herum.«
Nach langem Schweigen fragte Nylan schließlich: »Du wirst doch dieses Lied nicht wirklich anderen Leuten vorsingen wollen, oder?«
»Nein. Ich muss mich wieder auf eine Handelsexpedition begeben.« Ayrlyn lachte. »Deshalb werde ich es nicht singen. Noch nicht. Aber ich werde es Istril lehren. Es ist recht einfach und sie spielt schon recht gut auf der Lutar, die wir
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