Sturz der Tage in die Nacht
Apparat.«
»Ich möchte den Kandidaten sprechen.«
»Worum geht’s denn?«
»Das würde ich ihm gern selbst sagen.«
»Und wen soll ich melden?«
»Hauptabteilung XVIII .«
»Wie bitte?«
»Sagen Sie ihm das. Oder hat er Sie fürs Fragen angeheuert?«
Die Küstenseeschwalbe kehrte zurück und ließ sich auf dem Dachfirst der steinernen Kate nieder.
»Ich fürchte, Herr Ton ist im Moment nicht abkömmlich.«
»Da liegen Sie falsch. Es sei denn, er möchte sich mor- gen als Held der sozialistischen Arbeit in der
Bild
-Zeitung sehen.«
»Schon gut, Maja.« Das war Tons Stimme, und Inez zuckte zusammen, als sie die Wärme darin hörte, ein vertrautes und vergessenes Werben, das darauf schließen ließ, das er mit dieser Maja ein Verhältnis hatte. »Ich nehme das Gespräch an.«
»Du wolltest sagen, die Herausforderung nimmst du an«, sagte Inez. »Was anderes kann ich in dieser Situation nicht entdecken. Ich habe nicht vor,
ein Gespräch
mit dir zu führen.«
»Hört, hört, wir haben Oberwasser«, sagte Ton. »Was gibt’s denn.«
»Du kannst den Jungen haben.«
Es war still in der Leitung.
Ton räusperte sich.
»Es ist mir egal. Er soll selbst entscheiden, ob er deinen Wahlkampf mitmachen will oder nicht.«
Ton räusperte sich noch mal, und Inez legte den Hörer auf den Tisch und stand auf. Sie hatte vergessen, die Bürotür zuzumachen. »Ich schicke ihn direkt zu dir«, rief sie, nicht sicher, ob Ton das hören konnte.
Als sie zurück war, sagte Ton immer noch nichts.
»Hört diese Biene etwa mit?«
»Wir leben nicht mehr im Osten. In unseren Telefonen gibt es keine Technik mehr. Da ist das Internet effektiver.«
»Oder Leute wie dein Freund Feldberg«, sagte Inez.
In der Leitung gab es schleifende Geräusche. Inez sah aus dem Fenster. Die Küstenseeschwalbe saß auf dem Dachfirst. Ihre Schwanzfeder war in die Luft gereckt, und Inez fragte sich, ob dieser Vogel ahnte, wie wenig Zeit ihm noch blieb. Es gab diese Todesahnung bei Tieren. Und Küstenseeschwalben waren außergewöhnliche Tiere. Sie gehörten zu den Zugvogelarten, die in einer Saison bis zu siebzigtausend Kilometer flogen, häufig nonstop, wie neuere Transmitterdaten ergeben hatten. Sie ertrugen die Kälte über offenem Meer, sie ertrugen Dunkelheit und Sonneneinstrahlung. Sie hielten Hunger und Stürme aus. Ihr graziler Flug täuschte über jede Anstrengung hinweg. Es war diese Fähigkeit zur Verwandlung, die ihnen Macht über ihren Körper gab. Das imponierte Inez, dieses Spiel mit angeblich unumstößlichen Gesetzen der Biologie. Küstenseeschwalben fraßen sich so viel an, dass sie zur Hälfte aus Fett bestanden. Leber und Eingeweide vergrößerten sich. Bevor sie zur Antarktis zogen, ernährten sie sich von einem Teil ihrer eigenen vergrößerten Organe. Sie brauchten das Protein, um für die lange Strecke genügend Muskelmasse zu bilden.
Diese Vögel konnten alles, dachte Inez. Sie konnten vor allem alles ertragen. Das zurückgelassene Tier auf dem Dachfirst überlistete wahrscheinlich auch den Tod.
»Es war nicht meine Idee«, sagte Felix Ton dann.
»Soweit ich mich erinnere, war es noch nie deine Idee.«
»Was soll das heißen?«
»Du bist bloß ein Spielball höherer Mächte«, sagte Inez.
»Rainer ist von sich aus zu dir gefahren. Aus Neugier.«
»Rainers Schuld«, sagte Inez. »Wie damals.«
»Damals! Damals!«, rief Ton. »Woher soll ich wissen, was damals war? Ich habe mich abgekapselt. Verstehst du. Ich musste das.«
»Ich kann dir sagen, was war«, sagte Inez. »Ich könnte dich auch zitieren.«
»Ich weiß es wirklich nicht.«
»Meine Eltern haben einen Ausreiseantrag gestellt. Und Ausreisewilligen nahm man gern die Kinder weg. So war das doch«, sagte Inez. Die Küstenseeschwalbe unternahm einen Rundflug über die Insel. Sie segelte mit halb ausgeklappten Flügeln davon. »Dein Freund Feldberg ist ein nützlicher Mann.«
Hau dich ein bisschen hin
, hatte Feldberg gesagt und
alles auf gutem
Wege
und
Schwamm drüber,
und Inez hatte sich hingehauen und sich eingeredet, dass alles auf dem Weg war, und
Schwamm drüber.
Die Nacht nach der Fete hatte sie durchgeschlafen. Morgens beim Aufwachen war es Feldberg gewesen, der ihr einen Kaffee brachte. Inez merkte, dass sie immer noch in die Decke vom Vorabend eingerollt war. Die Luft im Bungalow war feucht. Es war Herbstluft, die mit den ersten Nachtfrösten durch die undichten Fenster drang. Unter dem Kaffeedampf beschlugen die Scheiben. Inez hatte sich
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