Sturz der Tage in die Nacht
adoptionswillige Ehepaare vermerkt, die der Jugendhilfe als vertrauenswürdig galten. Feldberg hatte ihr das alles mehrmals erzählt. Sie hatte das mehrmals wieder vergessen. Er machte ihr klar, dass das die beste Lösung wäre, die schmerzloseste, die notwendige.
Nach der Geburt durften ihre Eltern sie besuchen.
»Wo ist er?«
Im Café war es dunkel geworden. Der Kühltresen leuchtete. Ein langgestrecktes, bleiches U-Boot. So oft sie sich die Ereignisse von damals auch durch den Kopf rattern ließ, so oft sie sie noch durchrattern lassen würde, dachte Inez, sie würde kein Verhältnis mehr zu diesem Mädchen finden, das sie damals gewesen war. Ihr Verhältnis war bestenfalls ambivalent.
Und Ambivalenz war auf die Dauer schwer zu ertragen.
Zwiespältiges.
Mehrdeutigkeiten.
Die Leere, die vorn an der Felskante im Aufwind entsteht.
Das Meer
Die Fähre legt an.
Der Junge verlässt den Steg.
Es ist Mittag.
Über dem Wasser liegt gleißendes Licht.
Sie sind ganz am Anfang.
Sie könnten jetzt dort sein, wo die Fischerkate steht.
Der Junge läuft auf die Kate zu. Der Strand geht in dorniges Gestrüpp über. In der Kate gibt es zwei Pritschen und eine Sturmlampe, und der Junge hält an.
Etwas entfernt bleibt er stehen.
Die Frau liegt da und schläft. Er sieht die Träger ihres BH s unter dem T-Shirt hervorblitzen.
Die Träger sind weißer als der Sand, weißer als die Farbe der Kalksteine, weißer als das Boot.
Ihre Haare sind verteilt auf dem Strohsack, der als Kissen dient. Die Feuchtigkeit, die sich im Stroh sammelt, dringt mit dem Geräusch der Ostsee in ihre Träume. Es sind Träume, in denen ein Junge den Strand hinaufkommt. Er nähert sich und wartet, an den Türpfosten gelehnt, darauf, dass sie erwacht.
Sie ahnt nicht, dass er ausgerechnet heute kommt, dass er überhaupt kommen könnte. Sie erkennt ihn sofort.
Er ist vielleicht fünf.
Als er sieht, dass sie wach ist, macht er einen Schritt auf sie zu. Er zeigt ihr seine Hände. In der einen Hand hält er einen Stein. Er legt den Stein vorsichtig auf den Rand ihres Bettes. Er sieht sie an.
Es gefällt ihr, ihn auf der Insel zu haben. Sie wird dafür sorgen, dass er bleibt.
So beginnt es.
Es beginnt mit dem Aufwind, der vorn an der Felskante weht.
Plinthosella Squamosa
Felix Ton
hielt das silberne Telefon in der Hand. Inez’ Stimme war längst verstummt. Aber er konnte es noch immer nicht glauben. Rührung regte sich und verengte ihm die Kehle. Oft genug hatte er sich das vorgestellt: Tageszeitungen, die mit demselben Foto aufmachen. Morgenmagazine, die berichten. Radionachrichten, die die Neuigkeit gleich nach den Meldungen aus dem Bundestag bringen würden.
Vater und Sohn, nach langer Suche endlich vereint.
Mit dem Telefon in der Hand, das er fassungslos anstarrte, musste er das Bild eines überwältigten Mannes abgeben. Er erlaubte sich das. Wenn Erik heute oder morgen das Schiff nach Stockholm nehmen und dann mit dem Nachtzug nach Berlin fahren würde, könnte er spätestens in achtundvierzig Stunden hier sein. Drei Wochen vor der Wahl. Wie ihm nun doch noch alles mühelos in die Hände spielte, dachte Ton, und eine Träne tropfte ihm auf den Hemdkragen.
Er machte das gut. Es waren heiße, authentische Tränen, die in den Augenwinkeln zusammenrannen. Tränen, mit denen sich jeder identifizieren konnte. Seine Wähler würden wissen, woran sie bei ihm waren. Er war ein Mann ohne Hokuspokus.
Energisch wischte er das Wasser weg.
Es gab Dinge zu erledigen, Termine zu machen. Die Ankunftszeit der Nachtzüge aus Stockholm musste festgestellt und eine Pressemitteilung aufgesetzt werden, in der stand, dass sein Sohn gefunden sei und man demnächst eine gemeinsame Pressekonferenz abzuhalten gedenke, Ort und Zeitpunkt würden rechtzeitig bekanntgegeben. Als er diese Aufträge seiner Biene, wie er unerwarteterweise dachte, telefonisch übermittelte, begann Maja vor Überraschung zu kreischen.
Sein Büro ging auf den
Platz der Einheit
hinaus, es hatte große Fenster.
Platz der Einheit
war einer der Namen, die erst nach der Wende so richtig zur Geltung gekommen waren. Die Mehrdeutigkeit hatte ihn vor dem Auslöschen bewahrt. Dieser Name war ein Geschenk, dachte Ton und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Damit ließ sich einiges machen. Wenn sich die Sportsfreunde mit ihren Kameras nicht allzu dämlich anstellten, konnte man ein schönes Bild rausholen: Schulterschluss zwischen Vater und Sohn, im Hintergrund der schwarze Schriftzug auf
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